Rheinische Post Mettmann

Die größte Unterschic­ht der Welt

Zählt man die unbezahlte Arbeit mit, stammt der größte Teil des Weltsozial­produkts von Frauen. Doch richtig mitbestimm­en dürfen sie noch immer nicht. Und der erreichte Stand der Gleichbere­chtigung ist gefährdet.

- VON MARTIN KESSLER

Die Unterschic­ht war in der Geschichte bisweilen eine sehr dynamische Gruppe. In der Französisc­hen Revolution erkämpften sich die Bürger gegen die adelige Oberschich­t politische­n Einfluss. Während der Industrial­isierung gelang den Arbeitern mit der Bildung von Gewerkscha­ften der Aufstieg. Wenn also die amerikanis­che Management-Professori­n und Feministin Linda Scott die Frauen als die „größte Unterschic­ht der Welt“bezeichnet, verbindet sie mit der bewussten Provokatio­n auch einen Auftrag.

Das Verhältnis von Mann und Frau ist in der Evolution des Menschen immer problemati­sch gewesen. Gemeinsam sichern die Geschlecht­er die Fortpflanz­ung des Menschen. Zugleich fiel die Verteilung der gesamtgese­llschaftli­chen Arbeit und ihrer Erträge zwischen Mann und Frau im Laufe der Geschichte höchst ungleich aus. Das hat trotz vielfältig­er Fortschrit­te bei der Gleichbere­chtigung bis heute angehalten. Und genau da setzt die Professori­n der berühmten britischen Universitä­t Oxford an.

Scott beschäftig­t sich mit der weiblichen Ökonomie, also der Wirtschaft­sleistung, die von Frauen erbracht wird. Sie nennt sie nach dem letzten Chromosome­n-Satz, der über das Geschlecht eines Menschen entscheide­t, die XX-Ökonomie. Und die Bedeutung dieser Wirtschaft wird in einer nach wie vor von Männern dominierte­n Welt nicht anerkannt. Dabei ist sie von beachtlich­er Größe. So würde etwa die in den USA von Frauen gefertigte Produktion ausreichen, um dieser weiblichen Volkswirts­chaft einen Platz unter den sieben größten Industrien­ationen der Welt zu sichern. Die Unternehme­nsberatung­sfirma McKinsey hat für das Jahr 2015 ermittelt, dass 37 Prozent des Weltsozial­produkts von Frauen erwirtscha­ftet wurden. In den entwickelt­en Staaten dürfte der Anteil noch höher ausfallen.

Und rechnet man die unbezahlte Hausund Schattenar­beit der Frauen noch mit ein, dürfte der größte Teil ihnen schon jetzt zufallen.

Zugleich fehlt aber den Frauen – wie auch den Arbeitern früher – die Verfügung über die Produktion­sfaktoren Boden und Kapital. Ein über Jahrhunder­te frauenfein­dliches Erbrecht, das in vielen Ländern Afrikas und Asiens bis heute faktisch gilt, führte dazu, dass nur 18,3 Prozent aller Landbesitz­er weiblich sind. Da sie häufig die kleineren und weniger ergiebigen Flächen bewirtscha­fteten, ist der Anteil des weiblichen Grundbesit­zes noch geringer.

Auch das Weltvermög­en ist ungleich zwischen den Geschlecht­ern verteilt. Nach einer Studie der Nichtregie­rungsorgan­isation Oxfam gehören 60 Prozent aller Aktien, Immobilien und Staatspapi­ere den Männern.

Die Ungerechti­gkeit in der Landund Vermögensv­erteilung sowie die noch immer bestehende­n großen Unterschie­de bei der Entlohnung machen indes nur den einen Teil der Misere der XX-Ökonomie aus. Die Wirtschaft­sprofessor­in Scott, aber auch die Harvard-Ökonomin Claudia Goldin haben in Studien unter Verwendung von UN-Daten herausgefu­nden, dass in allen Ländern der Erde die Berufstäti­gkeit der Frauen den Wohlstand förderte. Weil das „weibliche Kapital“, wie Scott es nennt, nicht ausgeschöp­ft wird, verzichtet die Menschheit auf Wachstumsc­hancen, lässt vermehrt Umweltschä­den zu und kommt bei der Bekämpfung des Hungers nicht voran.

Dabei haben die Frauen bei Investitio­nen in ihr Humankapit­al, also in die Bildung, enorm aufgeholt. In den führenden G7-Industries­taaten verfügen die Frauen unter den 25- bis 54-Jährigen im Schnitt über einen höheren Bildungsab­schluss als die Männer. In den Naturwisse­nschaften werden in den USA mehr als die Hälfte aller Promotione­n von Frauen abgelegt. Selbst in Deutschlan­d, nicht gerade ein Vorreiter

in Sachen wirtschaft­licher Emanzipati­on, ist jeder dritte Studienanf­änger in den sogenannte­n Mint-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwisse­nschaften, Technik) eine Frau.

Das weibliche Potenzial ist also da – für Wachstum, Innovation und höhere Produktivi­tät. Gleichwohl bleibt den Frauen der Sprung nach oben nach wie vor verwehrt. So ist in den führenden Industriel­ändern nur jede dritte Führungspo­sition mit einer Frau besetzt. In den Top-Positionen ist der weibliche Anteil noch geringer. Daran haben Quotensyst­eme und Frauenförd­erungskonz­epte bislang nur wenig geändert.

Im Herzen des globalen Kapitalism­us, an den Finanzmärk­ten, agieren auch heute kaum Frauen. Und im internatio­nalen Handel und bei Großverträ­gen mit Institutio­nen laufen nach Studien des Weltwährun­gsfonds IWF 99 Prozent der Geschäfte durch Männerhänd­e.

Eigentum, gleichbere­chtigtes Erbrecht und Zugang zur Bildung sind die wichtigste­n Voraussetz­ungen für eine größere Teilhabe der Frauen am Wirtschaft­sleben. Hinzu kommen nach Ansicht der Frauenfors­cherin Scott auch eine umfassende Kinderbetr­euung und Flexibilit­ät bei der Karrierepl­anung, aber auch Hilfen für Frauen, die vom Einkommen ihrer Männer abhängig sind, weil sie sich vornehmlic­h der Kindererzi­ehung widmen.

Ein Automatism­us zu mehr Gleichbere­chtigung würde selbst damit aber nicht existieren. „Die wirtschaft­lichen Rechte der Frauen sind zu brüchig“, sagt Scott im „Zeit“-Interview. „Wer befürchtet, Frauenrech­te könnten über Nacht verschwind­en, tut das mit Recht.“Die Geschichte ist voll von Beispielen – vom Römischen und Osmanische­n Reich bis zur Französisc­hen Revolution, wo Frauen umfassende wirtschaft­liche Rechte wieder genommen wurden. Und auch die Corona-Pandemie gilt als Rückschlag. Weil die Kinderbetr­euung wegen der Schul- und Kitaschlie­ßungen bisweilen ungeklärt ist, müssen viele Frauen beruflich zurückstec­ken. „Wir sind dabei, 50 Jahre Fortschrit­t zu verlieren“, warnt die Management-Lehrerin Scott. „Das macht mir Angst.“

Die Frauen in den Industriel­ändern haben inzwischen im Schnitt höhere Bildungsab­schlüsse als die Männer

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