Die größte Unterschicht der Welt
Zählt man die unbezahlte Arbeit mit, stammt der größte Teil des Weltsozialprodukts von Frauen. Doch richtig mitbestimmen dürfen sie noch immer nicht. Und der erreichte Stand der Gleichberechtigung ist gefährdet.
Die Unterschicht war in der Geschichte bisweilen eine sehr dynamische Gruppe. In der Französischen Revolution erkämpften sich die Bürger gegen die adelige Oberschicht politischen Einfluss. Während der Industrialisierung gelang den Arbeitern mit der Bildung von Gewerkschaften der Aufstieg. Wenn also die amerikanische Management-Professorin und Feministin Linda Scott die Frauen als die „größte Unterschicht der Welt“bezeichnet, verbindet sie mit der bewussten Provokation auch einen Auftrag.
Das Verhältnis von Mann und Frau ist in der Evolution des Menschen immer problematisch gewesen. Gemeinsam sichern die Geschlechter die Fortpflanzung des Menschen. Zugleich fiel die Verteilung der gesamtgesellschaftlichen Arbeit und ihrer Erträge zwischen Mann und Frau im Laufe der Geschichte höchst ungleich aus. Das hat trotz vielfältiger Fortschritte bei der Gleichberechtigung bis heute angehalten. Und genau da setzt die Professorin der berühmten britischen Universität Oxford an.
Scott beschäftigt sich mit der weiblichen Ökonomie, also der Wirtschaftsleistung, die von Frauen erbracht wird. Sie nennt sie nach dem letzten Chromosomen-Satz, der über das Geschlecht eines Menschen entscheidet, die XX-Ökonomie. Und die Bedeutung dieser Wirtschaft wird in einer nach wie vor von Männern dominierten Welt nicht anerkannt. Dabei ist sie von beachtlicher Größe. So würde etwa die in den USA von Frauen gefertigte Produktion ausreichen, um dieser weiblichen Volkswirtschaft einen Platz unter den sieben größten Industrienationen der Welt zu sichern. Die Unternehmensberatungsfirma McKinsey hat für das Jahr 2015 ermittelt, dass 37 Prozent des Weltsozialprodukts von Frauen erwirtschaftet wurden. In den entwickelten Staaten dürfte der Anteil noch höher ausfallen.
Und rechnet man die unbezahlte Hausund Schattenarbeit der Frauen noch mit ein, dürfte der größte Teil ihnen schon jetzt zufallen.
Zugleich fehlt aber den Frauen – wie auch den Arbeitern früher – die Verfügung über die Produktionsfaktoren Boden und Kapital. Ein über Jahrhunderte frauenfeindliches Erbrecht, das in vielen Ländern Afrikas und Asiens bis heute faktisch gilt, führte dazu, dass nur 18,3 Prozent aller Landbesitzer weiblich sind. Da sie häufig die kleineren und weniger ergiebigen Flächen bewirtschafteten, ist der Anteil des weiblichen Grundbesitzes noch geringer.
Auch das Weltvermögen ist ungleich zwischen den Geschlechtern verteilt. Nach einer Studie der Nichtregierungsorganisation Oxfam gehören 60 Prozent aller Aktien, Immobilien und Staatspapiere den Männern.
Die Ungerechtigkeit in der Landund Vermögensverteilung sowie die noch immer bestehenden großen Unterschiede bei der Entlohnung machen indes nur den einen Teil der Misere der XX-Ökonomie aus. Die Wirtschaftsprofessorin Scott, aber auch die Harvard-Ökonomin Claudia Goldin haben in Studien unter Verwendung von UN-Daten herausgefunden, dass in allen Ländern der Erde die Berufstätigkeit der Frauen den Wohlstand förderte. Weil das „weibliche Kapital“, wie Scott es nennt, nicht ausgeschöpft wird, verzichtet die Menschheit auf Wachstumschancen, lässt vermehrt Umweltschäden zu und kommt bei der Bekämpfung des Hungers nicht voran.
Dabei haben die Frauen bei Investitionen in ihr Humankapital, also in die Bildung, enorm aufgeholt. In den führenden G7-Industriestaaten verfügen die Frauen unter den 25- bis 54-Jährigen im Schnitt über einen höheren Bildungsabschluss als die Männer. In den Naturwissenschaften werden in den USA mehr als die Hälfte aller Promotionen von Frauen abgelegt. Selbst in Deutschland, nicht gerade ein Vorreiter
in Sachen wirtschaftlicher Emanzipation, ist jeder dritte Studienanfänger in den sogenannten Mint-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) eine Frau.
Das weibliche Potenzial ist also da – für Wachstum, Innovation und höhere Produktivität. Gleichwohl bleibt den Frauen der Sprung nach oben nach wie vor verwehrt. So ist in den führenden Industrieländern nur jede dritte Führungsposition mit einer Frau besetzt. In den Top-Positionen ist der weibliche Anteil noch geringer. Daran haben Quotensysteme und Frauenförderungskonzepte bislang nur wenig geändert.
Im Herzen des globalen Kapitalismus, an den Finanzmärkten, agieren auch heute kaum Frauen. Und im internationalen Handel und bei Großverträgen mit Institutionen laufen nach Studien des Weltwährungsfonds IWF 99 Prozent der Geschäfte durch Männerhände.
Eigentum, gleichberechtigtes Erbrecht und Zugang zur Bildung sind die wichtigsten Voraussetzungen für eine größere Teilhabe der Frauen am Wirtschaftsleben. Hinzu kommen nach Ansicht der Frauenforscherin Scott auch eine umfassende Kinderbetreuung und Flexibilität bei der Karriereplanung, aber auch Hilfen für Frauen, die vom Einkommen ihrer Männer abhängig sind, weil sie sich vornehmlich der Kindererziehung widmen.
Ein Automatismus zu mehr Gleichberechtigung würde selbst damit aber nicht existieren. „Die wirtschaftlichen Rechte der Frauen sind zu brüchig“, sagt Scott im „Zeit“-Interview. „Wer befürchtet, Frauenrechte könnten über Nacht verschwinden, tut das mit Recht.“Die Geschichte ist voll von Beispielen – vom Römischen und Osmanischen Reich bis zur Französischen Revolution, wo Frauen umfassende wirtschaftliche Rechte wieder genommen wurden. Und auch die Corona-Pandemie gilt als Rückschlag. Weil die Kinderbetreuung wegen der Schul- und Kitaschließungen bisweilen ungeklärt ist, müssen viele Frauen beruflich zurückstecken. „Wir sind dabei, 50 Jahre Fortschritt zu verlieren“, warnt die Management-Lehrerin Scott. „Das macht mir Angst.“
Die Frauen in den Industrieländern haben inzwischen im Schnitt höhere Bildungsabschlüsse als die Männer