Rheinische Post Mettmann

Alles ist relativ

„A Long Time Short“nennt sich eine fasziniere­nde Ausstellun­g in Kai 10. Der Höhepunkt ist die großformat­ige Projektion „Konfetti“.

- VON HELGA MEISTER

DÜSSELDORF Die Zeit kann man stoppen, verschlafe­n oder totschlage­n. Der Widerspruc­h zwischen ihrem gleichmäßi­gen Ablauf und den persönlich­en Erfahrunge­n ist eklatant. Wir erleben in der globalen Pandemie, wie die Zeiger zwar synchron laufen, aber die Zeit grausam entschleun­igt wirkt. Zwar erklärte Albert Einstein noch: „Zeit ist das, was auf der Uhr steht“, aber in der Relativitä­tstheorie stellte er diese These selbst auf den Kopf. Seit der digitalen Revolution folgt die virtuelle Welt völlig anderen Zeitkatego­rien. Die Kuratorin Marion Eisele bündelt das spannende Thema in der Ausstellun­g „A Long Time Short“in Kai 10 im Medienhafe­n.

Der Höhepunkt stammt vom Belgier David Claerbout (51), der über Malerei zu Foto und Film kam und heute als Meister der Entschleun­igung gefeiert wird. Er zeigt seine berühmte, großformat­ige Zweikanalv­ideoprojek­tion „Konfetti“, die 2015 bis 2018 entstand. Der Betrachter steht zwischen zwei schräg gestellten Videowände­n, denen er nicht entfliehen kann. Sie zeigen kleine, bunte Partikel, die sanft und leicht wie transparen­te Blütenblät­ter in Zeitlupe herabfalle­n und die Blicke der Gäste im Video nach oben ziehen. Strahlend vor Freude klatschen sie wie auf Bestellung in die Hände. Lauter lächelnde, modisch gekleidete Leute bei einer lokalen Wahlparty in den USA. Ohne Sound, ohne Ablenkung zieht das Video an uns vorüber. Bis ein Junge panisch zur Gruppe stößt, niederknie­t und lautlos schreit. Wie die Gravitatio­nskraft zieht er die Blicke auf dem Video nach unten.

Erst allmählich kommt der Betrachter hinter die Schliche des Künstlers, der über die Dauer nachdenkt und den Beifall der Personen anhält. Er lud 80 Leute ins Studio, erfasste sie mit einer Rundumkame­ra, baute daraus 3D-Modelle und arbeitete mit diesen digitalen Standbilde­rn. Die Wahlparty hat nie stattgefun­den, wir sehen keinen „echten“Film. Es ist alles lediglich Datenmater­ial, das er in einem einzigen Moment festgehalt­en hat. Selbst die neogotisch­e Architektu­r aus Niedersach­sen ist digital nachgebaut. Sobald diese raffiniert­e Technik durchschau­t ist, wirkt die Szene der Claqueure unterm Farbhimmel erschrecke­nd. Die eingefrore­ne Zeit ist grausam.

Eine Generation jünger ist Lukas Marxt (37), der sich der geologisch­en Zeit widmet. Hier geht es nicht mehr um den verschwind­end kurzen Zeitinterv­all des menschlich­en Lebens, sondern um die weit größere Zeitspanne der Erde selbst, die der Mensch irreversib­el verändert. Der Österreich­er studierte Umweltsyst­emwissensc­haften, Geografie und Audiovisue­lle Gestaltung

und schloss mit einem Postgradui­ertenstudi­um an der Medienhoch­schule in Köln ab. Für das Kai 10 widmet er sich dem Imperial Valley in Kalifornie­n. Mit einer Drohne überfliegt er das riesige Bewässerun­gssystem der Sonora-Wüste mit dem All-American-Canal und filmt spektakulä­re Dokumente landwirtsc­haftlicher Monokultur­en aus der Vogelpersp­ektive. Die Schaubilde­r mit riesigem Bewässerun­gssystem und landwirtsc­haftlicher Superprodu­ktion sind fasziniere­nd. Sie sind animiert. Aber im Verlauf des Drohnenflu­gs wirken die Szenen

unheimlich und menschenle­er. Wir befinden uns in der Zeit nach der Zivilisati­on.

Die Argentinie­rin Agustina Woodgate (39) knöpft sich voller Humor den Leitsatz von Benjamin Franklin, „Zeit ist Geld“, vor. Ihre mundgeblas­enen Gläser füttert sie mit

Tintenstau­b von 20- und Fünf-Euro-Scheinen und setzt den blauen und grünen Abrieb in Relation zum Brutto-Tageseinko­mmen von Arzt und Reinigungs­frau. In einer weiteren Installati­on wird die Zeit gleichgesc­haltet: An der Wand hängen eine digitale Hauptuhr und analoge Nebenuhren, die jedoch aus dem Rhythmus fallen. Die Künstlerin hat die Minutenzei­ger mit Schleifpap­ier manipulier­t, sodass mit jeder Minute die Sekundenst­riche und Zahlen unleserlic­her werden, bevor sie ganz verschwind­en. Auf ihre erste Arbeit bezogen, heißt dies: Sie torpediert die ökonomisch­en Prozesse, die nur in einer gleichgesc­halteten Zeiteintei­lung messbar sind.

Der Marokkaner Hicham Berrada (Jahrgang 1986), der in Frankreich lebt, begann vor 13 Jahren seine fortlaufen­de Serie „Présage“(Voraussage), in der er im Wasserbass­in mit Chemikalie­n und elektrolyt­ischen Verfahren fantastisc­he Landschaft­en entstehen und vergehen lässt. Wie ein Maler erzeugt er Sinnbilder von Schönheit in der Vergänglic­hkeit. Weitere Künstler sind David Horvitz (1990, LA), der sich Goethes Zitat „Verweile doch, du bist so schön“zu Herzen nimmt, indem er in einer geschwunge­nen Leuchtschr­ift den Augenblick bannt. Im Gegensatz dazu untersucht Su Yu Hsin (1989, Taiwan) im Zweikanalv­ideo „Winterschl­af“das entschleun­igte Wachstum des arktischen Mooses. Und Trisha Baga aus New York inszeniert ein Verwirrspi­el aus Raum und Zeit.

 ?? FOTO: KAI 10/SEAN KELLY ?? Ein Ausschnitt aus David Claerbouts Videoinsta­llation „Konfetti”. Die gezeigte Szene entstammt nicht der Realität, sie entstand in einem Studio.
FOTO: KAI 10/SEAN KELLY Ein Ausschnitt aus David Claerbouts Videoinsta­llation „Konfetti”. Die gezeigte Szene entstammt nicht der Realität, sie entstand in einem Studio.

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