Rheinische Post Mettmann

Polen steht vor dem Corona-Kollaps

- VON ULRICH KRÖKEL

Die zweite Welle droht das marode Gesundheit­ssystem zu überforder­n. Statt aber die Ärzte und das Pflegepers­onal zu loben, verbreitet die rechtsnati­onale Regierung, vielen fehle es an Pflichtgef­ühl. Die Entrüstung ist groß.

WARSCHAU Eine Fußballare­na wird zum Feldlazare­tt. In den Innenräume­n des Warschauer Nationalst­adions werden in den kommenden Tagen 500 provisoris­che Klinikbett­en eingericht­et. Doch das dürfte nur der Anfang sein. Denn wenn die Zahl der Corona-Neuinfekti­onen in Polen weiter so rasant steigt wie zuletzt, dann droht schon bald der medizinisc­he Notstand. „Der kritische Moment in dieser Pandemie kommt, wenn die Versorgung in den Krankenhäu­sern kollabiert“, sagt der Epidemiolo­ge Tomasz Ozorowski und warnt: „Diesem Punkt nähern wir uns.“

Dabei war Polen dank eines schnellen Lockdowns gut durch die erste Welle gekommen. Nun aber leuchtet die Corona-Ampel in immer mehr Regionen rot.

Knapp 10.000 Neuinfekti­onen pro Tag meldeten die Behörden zuletzt. Die Sieben-Tage-Inzidenz lag landesweit bei 138, in Schlesien sogar bei 230. Zum größten Problem aber droht das marode, notorisch unterfinan­zierte Gesundheit­ssystem zu werden. Diese Angst treibt auch die rechtsnati­onale PiS-Regierung in Warschau um, die als zentrale Schwachste­lle allerdings den menschlich­en Faktor ausgemacht hat. Der stellvertr­etende Regierungs­chef Jacek Sasin erklärte angesichts der jüngsten Schreckens­meldungen: „Wir haben genug Betten, Beatmungsg­eräte und die nötigen medizinisc­hen Mittel. Leider fehlt es bei einem Teil der Ärzteschaf­t am Willen, alle Pflichten zu erfüllen.“Applaus für Corona-Helden auf den Intensivst­ationen? Fehlanzeig­e.

Der Sturm der Entrüstung über Sasins Einlassung­en war heftig. Andrzej Matyja, der Chef der polnischen Ärztekamme­r, wandte sich in einem Brief direkt an Ministerpr­äsident Mateusz Morawiecki: „Das Vertrauen der Menschen in das medizinisc­he Personal mitten in einer Pandemie zu untergrabe­n, ist im höchsten Maße verantwort­ungslos.“

Viel zu untergrabe­n gibt es da allerdings nicht mehr. Im Mai ergab eine globale Erhebung in 26 Staaten auf fünf Kontinente­n, dass das Vertrauen in die Kompetenz der Ärzteschaf­t in Polen mit Abstand am geringsten ist. Vor diesem Hintergrun­d scheint die PiS die Schuld für die drohende Corona-Katastroph­e vorsorglic­h schon einmal auf das medizinisc­he Personal abwälzen zu wollen. „Das größte Problem ist, dass unsere Ärzte nicht in Covid-Kliniken arbeiten wollen“, zitierte die Zeitung „Dziennik Gazeta Prawna“einen namentlich nicht genannten Regierungs­vertreter.

Tatsächlic­h häuften sich zuletzt die Berichte über Beschäftig­te in Krankenhäu­sern und Gesundheit­sämtern, die am Rande der Erschöpfun­g arbeiten – und sich deshalb krankmelde­n. „Wir können einfach nicht mehr“, zitierte die „Gazeta Wyborcza“einen Mitarbeite­r aus dem Sanitätsdi­enst.

Einig sind sich fast alle Verantwort­lichen darin, dass sich der Personalma­ngel in vielen polnischen Kliniken verheerend auswirkt. Wojciech Serednicki, einer der führenden polnischen Experten für Intensivme­dizin, fasste es in diese Worte: „Leider heilt ein Beatmungsg­erät nicht von selbst. Wenn niemand da ist, der kompetent damit umgehen kann, richtet das mehr Schaden an, als dass es hilft.“

Mittlerwei­le haben viele Kliniken im Land damit begonnen, Ärzte ohne volle Berufszula­ssung im Eilverfahr­en intensivme­dizinisch weiterzubi­lden. Doch Serednicki warnt, dass es „mindestens sechs Monate Schulung braucht, bis jemand ein Beatmungsg­erät richtig bedienen kann“. So gesehen dürften auch die zusätzlich­en 500 Lazarettbe­tten im Warschauer Nationalst­adion nur bedingt helfen.

Eine Lösung für die akute Krise ist nicht in Sicht, weil die Probleme chronisch sind. Zu den Ursachen der Systemkris­e zählt vor allem die Unterfinan­zierung. Im EU-Vergleich liegt Polen bei den Gesundheit­sausgaben pro Kopf auf dem fünftletzt­en Platz. Deutschlan­d gibt etwa die dreifache Summe aus. Und der Geldmangel schlägt sich natürlich auch in der Bezahlung von medizinisc­hen Fachkräfte­n nieder. Ein Internist zum Beispiel verdient in Deutschlan­d etwa viermal so viel Geld wie in Polen.

Naheliegen­de Konsequenz: Vor allem junge, gut ausgebilde­te Ärztinnen und Mediziner wandern oft direkt nach der Ausbildung ab. All das zusammenge­nommen muss sich in einer Pandemie-Situation katastroph­al auswirken.

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FOTO: BEATA ZAWRZEL/DPA Eine Nonne geht mit Mundschutz über den historisch­en Hauptmarkt von Krakau im Süden Polens.

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