Das 7:1, das es nicht geben durfte
Wenn Gladbach in der Champions League am Mittwochabend auf Inter Mailand trifft, spielt die Geschichte des Büchsenwurf-Spiels von 1971 mit. Es wurde annulliert und lief wegen eines Streits um 6600 Mark nicht im Fernsehen.
MÖNCHENGLADBACH Berti Vogts überlegte einen Moment, dann sagte der Rekordspieler von Borussia Mönchengladbach: „Ja!“Ja, das 7:1 gegen Inter Mailand, das sich am 20. Oktober 1971 ereignete, war das größte Spiel, das eine Gladbacher Mannschaft jemals gemacht hat. Aber genau genommen hat es dieses Spiel, in dem der italienische Meister „an die Wand gespielt wurde“, wie der frühere Gladbach-Manager Helmut Grashoff in seinem Buch „Meine launische Diva“schreibt, gar nicht gegeben. Zumindest, wenn man der These einiger Medienwissenschaftler folgt, die besagt, dass Wirklichkeit erst durch die Massenmedien entsteht. Und dieses großartige Stück Fußballgeschichte fand unter Ausschluss der medialen Öffentlichkeit statt. Das Fernsehen war live nicht dabei.
Das, was da geschah im ersten Achtelfinale des Europapokals der Landesmeister, war tatsächlich so etwas wie ein fantastisches Trugbild. Dieses 7:1 war die Mutter aller Borussen-Spiele – seine herrliche Schönheit aber wurde zerstört durch eine Cola-Dose. Diese berührte Mailands Roberto Boninsegnas Kopf in der 28. Minute. Der Italiener ging zu Boden, wurde vom Feld getragen und hinter verriegelter Kabinentür für spieluntüchtig erklärt. Inter legte Protest ein, denn „die Spieler hatten von da an Angst“, sagte Klubchef Ivanoe Fraizzoli. Uefa-Beobachter Matt Busby erklärte: „Die Uefa wird sich mit diesem Vorfall befassen müssen.“
Zeugen des Spektakels, bei dem „wir gespielt haben wie nie zuvor“, wie Günter Netzer in seiner Biografie „Aus der Tiefe des Raumes“notierte, werden nur 27.500 Menschen, die nämlich, die im Bökelbergstadion dabei sind. Der Rest der deutschen Fußballgemeinde ist ausgeschlossen – eben weil es keine Übertragung im Fernsehen gibt. Der Grund dafür ist ein heute undenkbarer Vorgang: Die Übertragung scheiterte an 6600 Mark. „In diesen Zeiten wurden noch über die Übertragungsrechte jedes Europapokalspiels einzeln verhandelt“, erklärte Netzer, der später selbst Rechtehändler des Fußballs wurde.
Die ARD unterbreitete vier Stunden vor dem Anstoß ein Angebot: 60.000 Mark, die üblichen elf Prozent Mehrwertsteuer inklusive. Borussias Manager Helmut Grashoff
20. Oktober 1971, Bökelberg, Mönchengladbach: Inter Mailands Roberto Boninsegna wird
verletzt vom Platz getragen, nachdem er von einer Cola-Dose
getroffen wurde. war aber in den Verhandlungen mit ARD-Mann Ernst Huberty der Meinung, dass die Fernseh-Anstalt die Steuer drauflegen müsse und wollte 66.600 Mark. „Keiner wollte nachgeben“, notierte damals die Rheinische Post. „6600 Mark. Diese vergleichsweise lächerliche Summe war Sportchef Huberty nicht bereit zu zahlen. Grashoff bestand darauf, Huberty blieb beim Nein, und der Bildschirm blieb dunkel. Es existieren ein paar Bilder, das italienische Fernsehen hatte aufgezeichnet, heißt es bei Netzer. Er selbst habe das Spiel nie wieder gesehen, gesteht der frühere „King vom Bökelberg“.
Borussias „Nibelungen-Angriff“(Rheinische Post) passierte also im kleinen Kreis jenseits der Kamera-Beobachtung. Genau das war vielleicht die Krux der Geschichte. Denn hätte es TV-Bilder gegeben, hätten diese möglicherweise das entlarvt, was Netzer als „Schmierentheater, schlechtes Schauspiel“beschreibt, und damit den Borussen Beweismaterial für ihre These geliefert, dass der Fall Boninsegna nicht so lag, wie er ausgelegt wurde und lediglich eine „taktische Vorsichtsmaßnahme“war (Grashoff ).
„Aber als Inters Trainer Ivernizzi Protest beim Schiedsrichter einlegte, wurde mir klar, dass Boninsegnas miese Einlage einen Zweck verfolgte. Boninsegna hat uns die Geschichte gestohlen“, schreibt Netzer. Der Italiener indes beteuert bis heute seine Unschuld. „Ich habe nicht geschauspielert. Die Dose hat mich am Kopf getroffen, und ich bin bewusstlos zu Boden gefallen“, sagte der ehemalige Nationalspieler zuletzt dem „SID“. Er hofft, wenn Inter Borussia nun am ersten Champions-League-Spieltag am Mittwoch (21 Uhr, live bei Dazn) empfängt, eines der wenigen Tickets zu bekommen.
Am Grünen Tisch kam am 29. Oktober 1971, was kommen musste: Nach siebenstündiger Verhandlung ordnete die Disziplinarkommission der Uefa eine Platzsperre für das nächste Uefa-Heimspiel, eine Geldstrafe von 10.000 Franken und die Wiederholung der Partie an, die am 1. Dezember in Berlin (nicht wie zunächst vorgegeben in Bern) war. Das unfassbare 7:1 wurde annulliert. Das 0:0 im mit 84.000 Zuschauern gefüllten Olympiastadion reichte nicht, um das zwischenzeitliche 2:4 in Mailand wettzumachen. Borussias größter Abend war daher zugleich ihr traurigster. Das ist auch 49 Jahre danach noch so. Die ominöse Dose steht nun im Vereinsmuseum. Ohne sie wäre die Borussia um einen Mythos ärmer. Auch das ist eine Wahrheit der Geschichte vom verlorenen 7:1 und der Cola-Büchse, die nicht im Fernsehen lief.