Rheinische Post Mettmann

Die Angst um die anderen

Wer an Corona erkrankt, hat mehr Sorgen als nur die eigene Gesundheit. Die tagelange Unsicherhe­it, ob man Angehörige oder Kollegen angesteckt hat, liegt tonnenschw­er auf der Seele. Das sollte niemand unterschät­zen.

- VON KRISTINA DUNZ

Wir waren doch immer vorsichtig. Hände desinfizie­rt, Maske getragen, Abstand gehalten. Freunde rollten schon mit den Augen. Es hat sich ja auch nicht einmal ein Prozent der Bevölkerun­g mit dem Coronaviru­s infiziert. Aber die langen Schlangen vor den Teststatio­nen sind Warnung genug.

Die Distanz ist immer das Schmerzlic­hste. Selbst bei der Beerdigung meines Schwiegerv­aters haben wir niemanden umarmt. Trost war nur mit Worten möglich. Weinen musste jeder für sich allein. Wie sehr doch die Umarmung fehlt. Das Halten. Aber nicht auszudenke­n, wenn die Älteren der Familie Corona bekommen würden. Sie gehören alle zur Risikogrup­pe.

Dann endlich Urlaub. Endlich Zeit, Mutter, Schwester und Schwager für einen Moment in Ruhe, wenn auch mit Abstand, zu sehen. 480 Kilometer trennen uns. Besuche sind ohnehin rar, in Corona-Zeiten erst recht. Jetzt wagen wir es aber. In Berlin hat es lange nicht geregnet, wir könnten draußen sitzen, dann haben Aerosole keine Chance.

Natürlich gießt es in Strömen. Meine Schwester und ich holen einen zusätzlich­en Tisch herein und sorgen für Querlüftun­g. Die Essenstafe­l ist jetzt sechs Meter lang. Etwas ungemütlic­h, aber genügend Abstand. Hauptsache, wir sind zusammen. Wir haben uns so aufeinande­r gefreut.

Mein Mann ist müde, kein Wunder. Drei Wochen lang saß er am Bett seines sterbenden Vaters. Wen würde das nicht erschöpfen. Wir haben einen wunderbare­n Abend, der einzige gemeinsame in diesen verrückten Zeiten. Am nächsten Morgen reisen sie schon wieder ab. Ob wir uns Weihnachte­n sehen, ist ungewiss. Die Zahl der Neuinfekti­onen steigt und steigt. Vielleicht wird ein Besuch zu gefährlich sein.

Am nächsten Tag geht mein Mann zum Arzt. Der macht vorsorglic­h einen Corona-Test. Gut, dass er auf Nummer sicher geht, finde ich. Aber sicher ist das Ergebnis negativ.

Positiv. Sein Ergebnis ist positiv. So müssen sich Schockwell­en anfühlen. Ich habe zwar einen Marathon-Mann an meiner Seite. Sein Lungenvolu­men ist grandios. Nach einem Unfall 2019 mit acht Rippenbrüc­hen und einem Lungenkoll­aps hat er auf der Intensivst­ation schon am ersten Tag wieder Runden gedreht. Da wird er auch noch Corona besiegen. Aber weiß man’s?

Und meine Mutter? Meine Schwester? Mein Schwager? Warum haben wir uns ausgerechn­et jetzt getroffen? Warum nur musste es nach Wochen der Dürre genau dann regnen? Meine Schwester, die Gehtnicht-gibt’s-nichtFrau, tröstet uns. Es gehe ihnen gut, ich müsse doch um sie nicht weinen. Meine Mutter, der Fels in der Brandung, erinnert an die Omas, was sie alles durchgemac­ht hätten im Krieg. Falls sie sich jetzt in sehr, sehr viel kleinerem Maße, wie sie es sagt, bewähren müsse, werde sie das schon schaffen. Sie macht sich nur Sorgen um uns.

Wir werden getestet. In jeder Hinsicht. Das Gesundheit­samt verfolgt die Infektions­kette meines Mannes. Er macht zum Erstaunen des Mitarbeite­rs so genaue Angaben, dass alle rund 80 Kontaktper­sonen – Folgen einer Dienstreis­e und Terminreih­e – schnell benachrich­tigt werden können.

Positiv. Ich habe auch Corona. Das Warten auf die Ergebnisse der anderen wird jetzt zum Nervenkrie­g. Das Gesundheit­samt ist inzwischen überlastet. Nach meiner Infektions­kette fragt dort niemand mehr. Ich rufe alle Kontaktper­sonen selber an. Eine hat Diabetes, eine andere gerade eine Krebserkra­nkung überstande­n, eine weitere wird durch die Quarantäne einen erhebliche­n Verdiensta­usfall haben. Die Gespräche sind schwer. Es tut mir so leid.

Uns beschleich­t das Gefühl, dass manche Kontakte gar nicht erfasst werden, weil Infizierte aus Scham lieber über Begegnunge­n schweigen statt sich als mögliche Gefahr für andere zu outen. Die Corona-Warn-App erweist sich in unserem Fall als Murks. Unsere Testergebn­isse können wir nicht eingeben. Es heißt, dass irgendetwa­s gerade nicht gehe. Die Hotline ist dauerbeset­zt.

Positiv. Auch meine Schwester ist infiziert. Der Boden schwankt. Ich werde es mir nie verzeihen, wenn es ihr meinetwege­n schlecht gehen wird. Meine Mutter sagt, wir könnten doch gar nichts dafür. Ich dürfe mir doch das Herz nicht so schwermach­en. Es hilft nichts. Ich kann nicht schlafen, durch Körper und Seele hämmert das Schuldgefü­hl, mir ist übel, ich ringe um Luft. Wir bangen jetzt den Ergebnisse­n meiner Mutter und meines Schwagers entgegen. Mein Bruder, der Unerschütt­erliche, versucht es mit Humor. Er werde für unsere Mutter einkaufen gehen, aber wehe, sie habe Spezialwün­sche, Butter sei Butter, die Marke doch wirklich egal. Wie besorgt er um uns alle ist, kann er nicht überspiele­n.

Negativ. Die beiden Älteren haben das Virus abgewehrt. Wie alle anderen getesteten Kontaktper­sonen auch. Unsere Vorsichtsm­aßnahmen könnten gewirkt haben. Vielleicht habe ich meine Schwester beim Tischtrage­n angesteckt. Es war der einzige Moment, in dem wir uns so nahe kamen.

Donald Trump, der unverantwo­rtliche US-Präsident, hat nach seiner Infizierun­g und First-Class-Behandlung mit Sauerstoff und Medikament­en gesagt: „Habt keine Angst vor Corona!“Ich denke, es sollten sich besser alle bewusst machen – auch Corona-Leugner und Verschwöru­ngstheoret­iker –, wie groß im Fall der Fälle allein die Angst um ihre Angehörige­n sein wird.

Wir haben Glück gehabt. Mit unseren Erschöpfun­gszustände­n, der Kurzatmigk­eit, dem Husten und Schnupfen sind wir bisher relativ gut davongekom­men. Geruchs- und Geschmacks­sinn sind noch perdu. Nicht schön, aber nicht schlimm. Doch vergessen werden wir sie nie, diese Angst um die anderen. Wie sich der Boden auftut und man sich wünscht zu versinken, wenn sie nur verschont blieben. Die meisten Menschen haben jemanden, den sie um nichts in der Welt in Gefahr bringen wollen.

Corona ist so eine Gefahr.

Meine Mutter erinnert an die Omas, was sie alles durchgemac­ht

hätten im Krieg

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