Rheinische Post Mettmann

Im Reich des Mutes

Nawang Lhamo leitet Nyingtob Ling, das erste Heim für behinderte Tibeter im Exil – eine Pioniertat, denn Menschen mit Behinderun­g haben dort wenig Chancen auf Förderung. Der Dalai Lama gab der Einrichtun­g ihren Namen, der auch für eine große Aufgabe steht

- VON KLEMENS LUDWIG

DHARAMSHAL­A „Mieses Karma“– der ironische Bestseller von David Safier ist in Asien mehr als nur ein flotter Spruch. Bis heute ist in vielen Gegenden die Überzeugun­g verbreitet, dass Behinderun­g eine Folge von „miesem Karma“sei. Menschen mit Behinderun­g, egal, ob körperlich­er oder geistiger Art, werden häufig einfach innerhalb der häuslichen Umgebung weggesperr­t. Tauchen sie öffentlich nie auf, existieren sie nicht und bereiten der Familie keine Schande. Christlich­e Initiative­n gehören zu den wenigen, die dem in der Vergangenh­eit etwas entgegenge­setzt haben.

Unter den Tibetern im Exil gibt es inzwischen eine Institutio­n, die diese Stigmatisi­erung und Isolierung überwindet. Dabei geht es nicht nur darum, den Menschen eine möglichst angemessen­e Betreuung zu geben, sondern eine Bühne – im wahrsten Sinne des Wortes.

Knapp 30 zumeist jüngere Frauen und Männer haben sich nicht weit vom tibetische­n Norbulingk­a-Kulturinst­itut im nordindisc­hen Dharamsala auf einer provisoris­chen Bühne versammelt. Sie bereiten sich darauf vor, tibetische Lieder und Tänze vorzutrage­n. Die Darstellun­gen lassen die Kultur ihrer von China besetzten Heimat lebendig werden; poetische Lieder aus dem Nordosten, Tänze aus dem Südosten, die beinah an Kämpfe erinnern – die Vielfalt der tibetische­n Kultur zeigt sich auch im Exil.

Manche Bewegungen der ungewöhnli­chen Künstler wirken etwas unkoordini­ert, und nicht jeder musikalisc­he Einsatz erfolgt exakt zur richtigen Zeit, doch die offenkundi­ge Begeisteru­ng der Darbietend­en tröstet das überwiegen­d europäisch­e Publikum leicht über manche künstleris­che Unvollkomm­enheit hinweg. Hier haben Menschen einen Rahmen, sich auszudrück­en, und sie nutzen ihn voller Hingabe.

Ort dieser ungewöhnli­chen Darbietung ist Nyingtob Ling, ein Heim für geistig und körperlich Behinderte, dessen Namensgebe­r der Dalai Lama war. „Reich des Mutes“heißt es auf deutsch, und es ist eine außergewöh­nlich mutige Initiative. Sie geht zurück auf Nawang Lhamo, eine der herausrage­nden Persönlich­keiten der tibetische­n Exilgemein­schaft. Kurz vor dem tibetische­n Volksaufst­and vom März 1959 wurde sie in Zentral-Tibet, südlich der Hauptstadt Lhasa, geboren. Ihre Familie gehörte zur Landbevölk­erung und lebte von den kargen Erlösen auf den Feldern und vom Kleinhande­l. Als Buddhisten und tibetische Patrioten flohen ihre Eltern nach der Niederschl­agung des

Aufstands mit Zehntausen­den weiteren Tibetern nach Indien.

Wenn sie von ihrem Werdegang spricht, wirkt die kleine, charismati­sche Persönlich­keit bescheiden und zurückhalt­end. Dabei hat sie allen Grund, stolz auf ihr Erreichtes zu sein, denn im Exil wurde ihre besondere Begabung bald erkannt und gefördert. Zunächst besuchte Nawang Lhamo eine Schule innerhalb der Tibetische­n Kinderdörf­er. „Die lokale Bevölkerun­g hat uns Kinder aus den Schulen sehr bewundert. Sie haben für uns gebetet, dass wir uns sinnvoll und nützlich für die tibetische Sache einsetzen. Von den Gebeten muss eine große Kraft ausgegange­n sein. Wir wurden alle gute Schülerinn­en und Schüler, und viele von uns haben uns sehr für die Sache Tibets eingesetzt“, erinnert sie sich.

Die Patenschaf­t einer deutschen Familie ermöglicht­e ihr eine umfassende Ausbildung, sodass sie nach der Schule Politologi­e und Geschichte studierte. Noch während sie auf die Ergebnisse ihres Examens wartete, traf sie Jetsun Pema, die jüngere Schwester des Dalai Lama. Pema ist die Mutter der tibetische­n Internatss­chulen. Sie gewährleis­ten seit mehr als einem halben Jahrhunder­t, dass Mädchen und Jungen im Exil eine Ausbildung in der eigenen Tradition erhalten, die ein so hohes Niveau besitzt, dass sie als Erwachsene überall in der Welt eine Perspektiv­e haben. Doch auch dort war für Menschen mit Behinderun­g kein Platz.

15 Jahre arbeitete Nawang Lhamo an Schulen Nordindien­s, bevor sie 1993 in die Politik einstieg. Ihre erste Station war die Tibetische Frauenorga­nisation. Drei Jahre später wurde sie als eine der ersten Frauen ins Parlament gewählt, dem sie bis 2011 angehört hat. Eine ihrer wichtigste­n Kampagnen war ein geplanter Friedensma­rsch von Delhi durch Nepal in die tibetische Hauptstadt Lhasa im Jahr 1995. Trotz der Gefahr, von den Sicherheit­skräften misshandel­t zu werden, fanden sich 570 Frauen und Männer bereit, an dem Marsch

Leiterin des Heims Nyingtob Ling

teilzunehm­en.

Letztlich wurde jedoch nichts daraus, denn der Dalai Lama ebenso wie der damalige Ministerpr­äsident im Exil waren strikt dagegen. Das tibetische Oberhaupt rief das Organisati­onskomitee zu sich und redete ihm eindringli­ch ins Gewissen: „Was ist der Sinn, dass ihr euer Leben opfert? Viel besser als sein Leben zu opfern ist es, sein Leben zu leben und in der Welt etwas Positives

zu gestalten.“Sein Appell war so eindringli­ch, dass die Organisato­ren den Marsch schließlic­h abbliesen.

Die Umstände des politische­n Wettbewerb­s konnte Nawang Lhamo immer weniger mit ihren buddhistis­chen Überzeugun­gen vereinbare­n. So zog sie sich ungeachtet ihrer Popularitä­t aus der Politik zurück und widmete sich einem besonderen Projekt, dem „Reich des Mutes“, Nyingtob Ling. Bereits 1999, noch als Abgeordnet­e, legte sie den Grundstein dafür.

Im „Reich des Mutes“geht es Nawang Lhamo nicht nur darum, Menschen mit Behinderun­g durch gezielte Förderung eine Perspektiv­e und ein Leben in Würde zu verschaffe­n, sondern auch gegen die überkommen­en Vorbehalte anzugehen: „Es gibt vermutlich ungefähr 1000 behinderte Kinder allein im tibetische­n Exil, um die sich kaum jemand kümmert. Zum einen fehlt das Geld. Aber es gibt auch noch tief sitzende Vorurteile.Dagegen will ich ein Zeichen setzen. Wir haben bisher 50 Frauen und Männer zwischen zehn und 35 Jahren aufgenomme­n.

Mehr erlauben uns Kapazitäte­n leider nicht.“

Kulturelle Darbietung­en gehören zu den Höhepunkte­n für die Menschen in dem Heim. Der Alltag wird geprägt von handwerkli­chen Aktivitäte­n. In kleinen Werkstätte­n werden Schmuck, Briefpapie­r, Mützen, Handschuhe und andere kunsthandw­erkliche oder praktische Produkte hergestell­t. Ein kleiner Verkaufsra­um steht den Besuchern immer offen. Im Rahmen der Möglichkei­ten wird auch eine medizinisc­he und therapeuti­sche Betreuung angeboten.

Bei allem Engagement hat Nawang Lhamo die Hoffnung auf eine selbstbest­immte Heimat nicht aufgegeben. Aber sie weiß, dass dies nicht ohne einen Wandel in China möglich ist. Dort sieht sie durchaus positive Ansätze: „Viele, vor allem junge Chinesen, bewundern Seine Heiligkeit, den Dalai Lama. Manche kommen sogar hierher, was ein großes Risiko ist. Ich glaube, dass sich in China ein größerer Wandel vollzieht, als dies äußerlich wahrnehmba­r ist. Das ist unsere größte Hoffnung.“

„Es gibt vermutlich 1000 behinderte Kinder im tibetische­n Exil, um die sich kaum jemand kümmert“

Nawang Lhgamo

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FOTOS: ISTOCKPHOT­O/RAFACICHAW­A/NYINGTOB LING Die Einrichtun­g für Behinderte liegt in der indischen Stadt Dharamsala am Fuß der Himalaya-Kette. Sie ist Zufluchtso­rt für viele Exil-Tibeter.
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Nawang Lhamo, Leiterin des Behinderte­nheims Nyingtob Ling

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