Merkels schwerster Kampf
Wenn die Kanzlerin außer der Reihe in die Bundespressekonferenz geht, ist etwas passiert. Sie weiß, dass sie ihr Regierungshandeln in der Krise erklären muss. Das Ergebnis entscheidet über das Ansehen ihrer Kanzlerschaft.
Der Auftritt vor der Bundespresskonferenz ist ungewöhnlich für die Kanzlerin. Ein Zeichen, für wie schwer sie diese Krise hält. Die Corona-Pandemie, vor deren Ausmaß sie in den Runden mit den Ministerpräsidenten viele Wochen vergeblich gewarnt, für die sie die Bevölkerung in ihren Podcasts aufzurütteln versucht hat. Berechnungen hat sie vorgelegt, gestützt auf Erkenntnisse der Wissenschaftler, Virologen, Epidemiologen, Infektionsbiologen. Die kritische Marke von fast 20.000 Neuinfektionen pro Tag, die die Gesundheitsämter – und bei einem weiteren Anstieg auch die Intensivstationen – überlasten könnte, hatte Merkel für die kommenden Wochen vorausgesagt. Panikmache wurde ihr vorgeworfen. Inzwischen ist der Wert erreicht. Viel früher als befürchtet.
Am Montag, dem ersten Tag des zweiten Shutdowns in Deutschland, stellte sie sich deshalb den Hauptstadtjournalisten. Das hat sie in den 15 Jahren ihrer bisherigen Amtszeit in aller Regel nur einmal im Jahr gemacht. Im Sommer, entweder vor oder nach der Parlamentspause. Sozusagen als Bilanz zu ihrer Regierungsarbeit. Wenn sie sonst noch den Weg in dieses Haus der Reporter fand, gab es Großes zu verkünden. Einen Koalitionsvertrag zum Beispiel. Für Merkel ist aber nichts größer als diese Pandemie. Denn bei aller Mühe, allen nächtelangen Verhandlungen über ein neues politisches Bündnis und allem Kabinettspostenpoker – das kann sie als Kanzlerin steuern, ausdiskutieren, regeln. Corona – die ihrer Ansicht nach größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg – nicht.
Die Kanzlerin steckt im Herbst der Pandemie in einem kommunikativen Dilemma. Zu Beginn brachte sie die Bevölkerung mit einem TV-Auftritt hinter sich. Sie übernahm das Heft des Handelns. In den Sommermonaten rückten die Ministerpräsidenten der Länder mit ihren unterschiedlichen Konzepten in den Mittelpunkt – Merkel nahm sich zurück. Überzeugt war sie nicht von den vielen Sonderwegen. Nun ist die Zahl der Neuinfektionen so stark gestiegen, dass die Kanzlerin zurück ist in ihrer Rolle als Krisenmanagerin für das ganze Land.
Die Ministerpräsidenten brachte sie auf eine Linie. Doch in der Öffentlichkeit ist der Frust über geschlossene Restaurants, Sportstätten und abgesagte Kulturveranstaltungen groß. Die Stimmen, die den jetzigen zweiten und milderen Shutdown als im Frühjahr als unverhältnismäßig kritisieren, kommen auch aus der Mitte der Gesellschaft. So warb die Kanzlerin am Montag vehement um Akzeptanz der Kontaktbeschränkungen. Und warf ihre Auffassung von Freiheit in die Waagschale. „Ich glaube in der Demokratie an die Kraft der Vernunft und der Verantwortung“, sagte sie und fügte ihre Vorstellung einer Gesellschaft hinzu, in der sich jeder auch um den anderen sorgt – und deswegen selbst verzichtet.
Als Naturwissenschaftlerin war Merkel sowieso präsent. „Das ist exponentielles Wachstum, das uns mit zunehmender Geschwindigkeit auf eine akute Notlage in unseren Krankenhäusern zulaufen lässt“, mahnte die Physikerin. Und machte deutlich: Die Zahl von 50 Infizierten auf 100.000 Einwohner in sieben Tagen ist ihre persönliche Demarkationslinie. An dieser Marke entscheidet sich für Merkel die Frage, ob man die Infektionsketten noch nachverfolgen kann: „Jeder und jede hat es in der Hand, diesen November zu unserem gemeinsamen Erfolg zu machen – zu einem Wendepunkt wieder zurück zu einer Verfolgbarkeit der Pandemie.“Daraus folgt: Sollte diese Marke, die jetzt bei über 125 liegt, mit den vierwöchigen Einschränkungen nicht erreicht werden, erscheinen Lockerungen
Bundeskanzlerin
im Dezember mit Merkels Billigung unwahrscheinlich. Zu Beginn des Jahres schien es noch so, dass Merkels Kanzlerschaft 2021 nach 16 Jahren – dann hat sie Rekord-Kanzler Helmut Kohl eingeholt – recht ruhig auslaufen wird. Ihre Nachfolge an der CDU-Spitze war mit ihrer Favoritin für das Amt, Annegret Kramp-Karrenbauer, geklärt, die deutsche EU-Ratspräsidentschaft von Juli bis Dezember 2020 sollte der letzte Kraftakt werden. Das schwierige Verhältnis zu China hatte sie dafür besonders auf dem Plan. Sie wollte eine engere wirtschaftliche Kooperation zwischen der EU und Peking voranbringen, zugleich selbstbewusster gegenüber dem kommunistischen Staat auftreten, der es sich zum Ziel gesetzt hat, langfristig die größte Volkswirtschaft der Welt zu sein und die USA abzuhängen. Die Rechtsstaatlichkeit sollte in den Beziehungen eine stärkere Rolle spielen und die Investitionsbedingungen für Europäer deutlich verbessert werden. das war eines der Ziele von ihrer Ratspräsidentschaft. Die Pandemie führt quasi ganz Regie. Denn auch so dramatische Zukunftsthemen wie der Klimawandel wurde Corona untergeordnet.
Im November 2020 sieht alles anders aus. Die CDU wirkt nach dem im Februar angekündigten Rückzug von Kramp-Karrenbauer kopflos. Erst im Januar soll über ihre Nachfolge entschieden werden. Und erst danach über die Kanzlerkandidatur der Union. Wie gut oder schlecht es Merkel gelingen wird, im letzten Jahr ihrer Kanzlerschaft diese Jahrhundertkrise zu meistern, entscheidet auch darüber, wie die Menschen sie als Regierungschefin in Erinnerung behalten werden: Als eine Politikerin, die das Land und die Gesellschaft auch noch in dieser Phase zusammenhalten konnte – oder als Kanzlerin, die zum Ende ihrer Amtszeit die Kraft nicht mehr aufbringen konnte. Am Montag ließ sie keinen Zweifel daran, dass sie kämpfen wird: Um Rückhalt und Verständnis in der Bevölkerung für die harten Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie – und um ihren Ruf als Krisenmanagerin. Diesen Kampf wird sie bis zu ihrem letzten Tag als Kanzlerin führen.
„Jeder und jede hat es
in der Hand, diesen November zu unserem gemeinsamen Erfolg zu machen“
Angela Merkel