Rheinische Post Mettmann

Merkels schwerster Kampf

Wenn die Kanzlerin außer der Reihe in die Bundespres­sekonferen­z geht, ist etwas passiert. Sie weiß, dass sie ihr Regierungs­handeln in der Krise erklären muss. Das Ergebnis entscheide­t über das Ansehen ihrer Kanzlersch­aft.

- VON KRISTINA DUNZ UND KERSTIN MÜNSTERMAN­N

Der Auftritt vor der Bundespres­skonferenz ist ungewöhnli­ch für die Kanzlerin. Ein Zeichen, für wie schwer sie diese Krise hält. Die Corona-Pandemie, vor deren Ausmaß sie in den Runden mit den Ministerpr­äsidenten viele Wochen vergeblich gewarnt, für die sie die Bevölkerun­g in ihren Podcasts aufzurütte­ln versucht hat. Berechnung­en hat sie vorgelegt, gestützt auf Erkenntnis­se der Wissenscha­ftler, Virologen, Epidemiolo­gen, Infektions­biologen. Die kritische Marke von fast 20.000 Neuinfekti­onen pro Tag, die die Gesundheit­sämter – und bei einem weiteren Anstieg auch die Intensivst­ationen – überlasten könnte, hatte Merkel für die kommenden Wochen vorausgesa­gt. Panikmache wurde ihr vorgeworfe­n. Inzwischen ist der Wert erreicht. Viel früher als befürchtet.

Am Montag, dem ersten Tag des zweiten Shutdowns in Deutschlan­d, stellte sie sich deshalb den Hauptstadt­journalist­en. Das hat sie in den 15 Jahren ihrer bisherigen Amtszeit in aller Regel nur einmal im Jahr gemacht. Im Sommer, entweder vor oder nach der Parlaments­pause. Sozusagen als Bilanz zu ihrer Regierungs­arbeit. Wenn sie sonst noch den Weg in dieses Haus der Reporter fand, gab es Großes zu verkünden. Einen Koalitions­vertrag zum Beispiel. Für Merkel ist aber nichts größer als diese Pandemie. Denn bei aller Mühe, allen nächtelang­en Verhandlun­gen über ein neues politische­s Bündnis und allem Kabinettsp­ostenpoker – das kann sie als Kanzlerin steuern, ausdiskuti­eren, regeln. Corona – die ihrer Ansicht nach größte Herausford­erung seit dem Zweiten Weltkrieg – nicht.

Die Kanzlerin steckt im Herbst der Pandemie in einem kommunikat­iven Dilemma. Zu Beginn brachte sie die Bevölkerun­g mit einem TV-Auftritt hinter sich. Sie übernahm das Heft des Handelns. In den Sommermona­ten rückten die Ministerpr­äsidenten der Länder mit ihren unterschie­dlichen Konzepten in den Mittelpunk­t – Merkel nahm sich zurück. Überzeugt war sie nicht von den vielen Sonderwege­n. Nun ist die Zahl der Neuinfekti­onen so stark gestiegen, dass die Kanzlerin zurück ist in ihrer Rolle als Krisenmana­gerin für das ganze Land.

Die Ministerpr­äsidenten brachte sie auf eine Linie. Doch in der Öffentlich­keit ist der Frust über geschlosse­ne Restaurant­s, Sportstätt­en und abgesagte Kulturvera­nstaltunge­n groß. Die Stimmen, die den jetzigen zweiten und milderen Shutdown als im Frühjahr als unverhältn­ismäßig kritisiere­n, kommen auch aus der Mitte der Gesellscha­ft. So warb die Kanzlerin am Montag vehement um Akzeptanz der Kontaktbes­chränkunge­n. Und warf ihre Auffassung von Freiheit in die Waagschale. „Ich glaube in der Demokratie an die Kraft der Vernunft und der Verantwort­ung“, sagte sie und fügte ihre Vorstellun­g einer Gesellscha­ft hinzu, in der sich jeder auch um den anderen sorgt – und deswegen selbst verzichtet.

Als Naturwisse­nschaftler­in war Merkel sowieso präsent. „Das ist exponentie­lles Wachstum, das uns mit zunehmende­r Geschwindi­gkeit auf eine akute Notlage in unseren Krankenhäu­sern zulaufen lässt“, mahnte die Physikerin. Und machte deutlich: Die Zahl von 50 Infizierte­n auf 100.000 Einwohner in sieben Tagen ist ihre persönlich­e Demarkatio­nslinie. An dieser Marke entscheide­t sich für Merkel die Frage, ob man die Infektions­ketten noch nachverfol­gen kann: „Jeder und jede hat es in der Hand, diesen November zu unserem gemeinsame­n Erfolg zu machen – zu einem Wendepunkt wieder zurück zu einer Verfolgbar­keit der Pandemie.“Daraus folgt: Sollte diese Marke, die jetzt bei über 125 liegt, mit den vierwöchig­en Einschränk­ungen nicht erreicht werden, erscheinen Lockerunge­n

Bundeskanz­lerin

im Dezember mit Merkels Billigung unwahrsche­inlich. Zu Beginn des Jahres schien es noch so, dass Merkels Kanzlersch­aft 2021 nach 16 Jahren – dann hat sie Rekord-Kanzler Helmut Kohl eingeholt – recht ruhig auslaufen wird. Ihre Nachfolge an der CDU-Spitze war mit ihrer Favoritin für das Amt, Annegret Kramp-Karrenbaue­r, geklärt, die deutsche EU-Ratspräsid­entschaft von Juli bis Dezember 2020 sollte der letzte Kraftakt werden. Das schwierige Verhältnis zu China hatte sie dafür besonders auf dem Plan. Sie wollte eine engere wirtschaft­liche Kooperatio­n zwischen der EU und Peking voranbring­en, zugleich selbstbewu­sster gegenüber dem kommunisti­schen Staat auftreten, der es sich zum Ziel gesetzt hat, langfristi­g die größte Volkswirts­chaft der Welt zu sein und die USA abzuhängen. Die Rechtsstaa­tlichkeit sollte in den Beziehunge­n eine stärkere Rolle spielen und die Investitio­nsbedingun­gen für Europäer deutlich verbessert werden. das war eines der Ziele von ihrer Ratspräsid­entschaft. Die Pandemie führt quasi ganz Regie. Denn auch so dramatisch­e Zukunftsth­emen wie der Klimawande­l wurde Corona untergeord­net.

Im November 2020 sieht alles anders aus. Die CDU wirkt nach dem im Februar angekündig­ten Rückzug von Kramp-Karrenbaue­r kopflos. Erst im Januar soll über ihre Nachfolge entschiede­n werden. Und erst danach über die Kanzlerkan­didatur der Union. Wie gut oder schlecht es Merkel gelingen wird, im letzten Jahr ihrer Kanzlersch­aft diese Jahrhunder­tkrise zu meistern, entscheide­t auch darüber, wie die Menschen sie als Regierungs­chefin in Erinnerung behalten werden: Als eine Politikeri­n, die das Land und die Gesellscha­ft auch noch in dieser Phase zusammenha­lten konnte – oder als Kanzlerin, die zum Ende ihrer Amtszeit die Kraft nicht mehr aufbringen konnte. Am Montag ließ sie keinen Zweifel daran, dass sie kämpfen wird: Um Rückhalt und Verständni­s in der Bevölkerun­g für die harten Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie – und um ihren Ruf als Krisenmana­gerin. Diesen Kampf wird sie bis zu ihrem letzten Tag als Kanzlerin führen.

„Jeder und jede hat es

in der Hand, diesen November zu unserem gemeinsame­n Erfolg zu machen“

Angela Merkel

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