Für ewig Bomber der Nation
Gerd Müller ist der mit Abstand erfolgreichste deutsche Torjäger. Am 3. November wird der frühere Weltmeister 75. Von seinem Geburtstag wird er kaum etwas mitbekommen: Er ist an Alzheimer erkrankt und lebt in einem Pflegeheim.
MÜNCHEN Wenn Fußballfans an dunklen Herbstabenden mal nicht die x-te Liveübertragung eines Geisterspiels über sich ergehen lassen, dann denken sie sich Ranglisten der besten Spieler aller Zeiten aus. Und weil für sie der Fußball eben Fußball ist, ignorieren sie kühn die athletische und wissenschaftliche Entwicklung ihres Lieblingssports, sie nehmen verwackelte SchwarzWeiß-Bilder der Gründerzeit ebenso zum Zeugnis ihrer Hitliste wie den Hochglanz-Zirkus des modernen Unterhaltungsgeschäfts.
In ihren Ranglisten steht mal Pelé, der mit Brasilien dreimal Weltmeister wurde, mal Diego Maradona, das argentinische Genie, mal Franz Beckenbauer, der deutsche Erfinder des Liberospiels, mal Lionel Messi, der Zauberzwerg des FC Barcelona, mal Johan Cruyff, ohne den der Fußball in Holland und Spanien nicht denkbar ist. Gerd Müller nie. Dabei hat er die Welt um eine Torquote bereichert, an der sich seine Nachfolger noch immer vergeblich abarbeiten. In 62 Länderspielen schoss er 67 Tore, in 427 Bundesligaspielen 365, in 77 Europapokalspielen 69. In der Bundesligasaison 1971/72 traf er 40-mal. Unerreicht. Die martialische Sprache der zeitgenössischen Sportberichterstatter fand den Begriff „Bomber der Nation“. Am 3. November wird er 75 Jahre alt.
Es gehört zur Tragik seines Lebens, dass niemand weiß, wie viel Gerd Müller von seinem Geburtstag mitbekommt. Er leidet an Alzheimer, und er wird seit 2015 in einer Klinik in der Nähe von München betreut. Seine Frau Uschi sagte der „Bild“-Zeitung: „Der Gerd schläft seinem Ende entgegen“.
Es war schon lange still um ihn geworden, noch bevor sich der dunkle Vorhang der Demenz über sein Leben legte. Er arbeitete seit den frühen 1990er Jahren als Offensivcoach in der dritten Reihe bei Bayern München. Eine Rolle, mit der sich der schüchterne Mann aus dem bayerisch-schwäbischen Nördlingen bestens anfreunden konnte. Die geborene Plaudertasche war der freundliche Herr mit dem grauen
Vollbart nie. Bezeichnend ist seine Auskunft auf die immer wiederkehrende Frage nach dem Geheimnis seiner Torgefährlichkeit. „Des kannst“, stellte Müller fest, „oder des kannst nicht.“
Er konnte es. Müller schoss seine Tore im Liegen, im Sitzen, im Rutschen, mit dem rechten Bein, dem linken Bein, dem Knie, dem Bauch, dem Kopf, dem Po. Er sparte kein Körperteil aus, der ästhetische Wert eines Treffers war ihm gleich. Rein musste der Ball, das war der Inhalt seines Spiels. Ein Renner war Müller nie, seine längsten Sprints zog er im Torjubel an. Seine große Klasse offenbarte sich in ganz kurzen Reaktionszeiten, einer hohen Wendigkeit in engen Räumen und einem fantastischen Wissen darum, wo das Tor steht.
Das wichtigste erzielte Müller für die Nationalmannschaft - das zum 2:1-Endstand im Finale der Weltmeisterschaft 1974 gegen Holland in München. Beckenbauer urteilte zu den besten gemeinsamen Zeiten: „Ohne ihn würden wir uns heute noch in einer Holzhütte an der Säbener Straße umziehen.“So richtig vergoldet hat ihm der FC Bayern der 1970er Jahre diese Verdienste nicht. Er verdiente nie so viel, wie er wert war.
Als der Bayern-Stern vorübergehend in den Sinkflug überging, weil die großen Spieler in die Jahre gekommen waren, floh Müller in die USA zu Fort Lauderdale. Der
Münchner Trainer Pal Csernai hatte es gewagt, Müller auszuwechseln. Und das traf den empfindsamen Kerl so tief, dass er sich mit dem Klub 1979 auf eine fristlose Kündigung einigte.
Sein Glück fand er in den Staaten trotz eines Millionengehaltes allerdings nicht. Ohne Englischkenntnisse war er über den großen Teich gegangen, er fremdelte mit der Operettenliga und lebte scheu und zurückgezogen. Auf den weiten Flugreisen bekämpfte er seine Flugangst nach einem verhängnisvollen Ratschlag alter Münchner Kollegen mit harten Drinks. Und gegen Einsamkeit und Ehestress setzte er ebenfalls auf den Alkohol. Als Müller 1984 nach München zurückkehrte, hatte ihn der Alkohol endgültig im Griff. Uli Hoeneß und Franz Beckenbauer hatten den alten Freund jedoch nicht vergessen. Sie bewegten ihn zum Entzug, und brachten ihn im Trainerstab unter. „Es war mein größter Sieg“, erklärte Müller.
An den großen Geburtstagen erinnerten sich die Zeitzeugen an eine märchenhafte Karriere, die Müller mit 17 Jahren beim TSV Nördlingen begann. In 28 Spielen schoss der Teenager 47 Tore und leistete damit einen wesentlichen Beitrag zum Aufstieg in die Landesliga. Das sprach sich bis zu den großen Münchner Klubs herum. Der seinerzeit deutlich größere — 1860 München — stand kurz vor der Verpflichtung. Aber der FC Bayern war schneller. Ziemlich genau eine Stunde vor 1860 besuchte Bayerns Geschäftsführer Walter Fembeck die Müllers in Nördlingen, und Müller unterschrieb seinen ersten Vertrag. So will es die Legende. Die Ablösesumme betrug 4400 Mark.
Es war der Auftakt für goldene Jahre des FC Bayern und der Nationalmannschaft. Müller gewann alles, was in diesem Sport zu gewinnen ist. Und er blieb dabei ein freundlicher, zugänglicher, stiller Mann. Auch deshalb verriet niemand aus der sonst gesprächigen Münchner Medienszene, was um das Jahr 2015 viele bereits wussten. Erst mit einer offiziellen Erklärung des FC Bayern wurde Müllers Erkrankung öffentlich. Es war die späte Verbeugung vor einem großen Spieler und einem einfachen Mann ohne Allüren.