„Wir sind systemrelevant“
Der Vorstand des VRR beklagt Mindereinnahmen von 260 Millionen Euro. Er hofft auf Landeshilfe.
GELSENKIRCHEN Wir treffen uns im VRR-Vorstandsbüro in Gelsenkirchen. Der ÖPNV ist hier überall präsent. Auf dem Flur zeigt ein Monitor, wann die nächsten Züge ab Hauptbahnhof fahren, eine Besprechungsecke ist mit Sitzen aus einem RheinRuhr-Express eingerichtet.
Herr Castrillo, wie hart trifft der „Lockdown light“den VRR als einen der größten Verkehrsverbünde Europas?
CASTRILLO Wir rechnen mit einer leicht sinkenden Auslastung, weil Menschen abends weniger weggehen und weil wieder mehr Menschen Homeoffice machen. Aber insgesamt bleibt es dabei, dass wir ungefähr ein Viertel weniger Reisende transportieren als vor der Pandemie, während wir das Angebot komplett aufrechthalten. Die Hochämter des ÖPNV wie Fußballspiele oder andere Großveranstaltungen finden nicht statt, andererseits bleiben die Schulen ja offen, und die Menschen müssen zur Arbeit kommen.
Brauchen Sie neue Zuschüsse wegen Corona?
CASTRILLO Dieses Jahr rechnen wir mit Mindereinnahmen von 260 Millionen Euro von ursprünglich angenommenen Verkehrserträgen von 1,3 Milliarden Euro. Diese Lücke wird aus dem Rettungsschirm von Bund und Land ausgeglichen. Dafür sind wir sehr dankbar. Nun rechnen wir aber 2021 mit erneuten Mindereinnahmen von rund 220 Millionen Euro. Wir hoffen, dass der Staat auch diesen Fehlbetrag ausgleichen kann. Das wäre aus meiner Sicht möglich, wenn dieses Jahr nicht ausgegebene Mittel des Rettungsschirmes auf 2021 übertragen und gegebenenfalls aufgestockt werden.
Wird ohne neues Geld der Fahrplan ausgedünnt?
CASTRILLO Ohne vergleichbar hohe Unterstützung wie im Jahr 2020 ist der Status quo im Bereich des Angebots und des Tarifs nicht aufrechtzuerhalten. Aber das will niemand. Wir sind systemrelevant, die Politik will die Verkehrs- und Mobilitätswende. Je mehr Züge und Busse wir einsetzen, umso besser.
Können Sie Menschen während stark steigender Infektionszahlen ernsthaft raten, zu Hauptverkehrszeiten in Busse und Bahnen zu steigen?
CASTRILLO Wir halten den ÖPNV für sehr sicher, gerade wenn alle eine Maske tragen. Aber wir freuen uns, wenn diejenigen, die den Zeitpunkt der Fahrt frei wählen können, eher abseits der Stoßzeiten unterwegs sind.
Was ist mit Maskenmuffeln? CASTRILLO Die ganz große Mehrheit der Fahrgäste trägt die Masken. Die meisten Passagiere legen großen Wert darauf, dass Mitreisende sich an die Maskenpflicht halten. Dort, wo es zum Beispiel am frühen Abend oder in bestimmten Regionen Schwierigkeiten gibt, führen die Ordnungsbehörden – auch zusammen mit unseren Mitgliedsunternehmen – Kontrollen durch. Darüber hinaus gibt es immer wieder allgemeine Schwerpunktkontrollen in Fahrzeugen, an Bahnhöfen und Haltestellen.
Was bieten Sie Menschen, die wegen des Trends zum Homeoffice viel seltener ins Büro fahren und kein Abo für jeden Tag brauchen?
CASTRILLO Erstens können neue Abos im ersten Jahr jederzeit gebührenfrei gekündigt werden. Das gibt Flexibilität. Zweitens arbeiten wir in enger Abstimmung mit unseren politischen Gremien aktuell an einfachen Tarifen, die das Thema „neue Arbeitsmodelle“aufgreifen und praxisnah darstellen. Beispielsweise an einer Art flexiblem Abo, das eine ausgewählte Zahl an Fahrten pro Monat beinhaltet, beispielsweise zehn oder 15 Fahrten. Das wird dann per App abgerechnet und ist natürlich flexibler als ein Rund-um-die-Uhr-Abo.
Das Ziel dahinter?
CASTRILLO Uns ist wichtig, unsere treuen Kunden weiter an uns zu binden: 75 Prozent der Passagiere sind Stammkunden, nur ein Viertel Gelegenheitsfahrer.
Wer den ÖPNV nur sporadisch nutzt, muss viel zahlen und kann am Tarifdschungel verzweifeln.
CASTRILLO Wir haben unser Tarifsystem bereits deutlich vereinfacht, es gibt nur vier Preisstufen. Wir haben auch die Option „Einfach-weiter-Ticket“entwickelt, mit der Fahrgäste ihr Abo-Ticket für Fahrten über die Grenzen des Verbundraums in den VRS Richtung Köln oder in den Aachener Verkehrsverbund erweitern können, ab Januar auch in den westfälischen Raum. Und mit Zehnerkarten auf dem Smartphone können Gelegenheitsfahrer immerhin 20 Prozent Rabatt pro Fahrt bekommen.
Landesweite einfache Mobilität ohne jede Verbundgrenze wäre doch viel besser.
CASTRILLO Daran arbeiten alle Nahverkehrsakteure in enger Abstimmung mit dem NRW-Verkehrsministerium. Ich rechne damit, dass der VRR und die anderen Verkehrsverbünde in der zweiten Hälfte von 2021 einen landesweiten elektronischen Tarif in ganz NRW anbieten, der den Fahrpreis auf Grundlage der Luftlinie zwischen der Start- und Zielhaltestelle bestimmt.
Um an Ende teurer abzurechnen?
CASTRILLO
Um für Fahrgäste attraktiv zu bleiben, sollte bei einem Luftlinienkilometertarif eine Preisbegrenzung eingebaut sein, damit sichergestellt wird, dass Fahrgäste preislich nicht benachteiligt werden. Die App rechnet automatisch ab. Es wird keine Preissprünge geben, nur weil eine Tarifgrenze überschritten wird. Damit wollen wir den ÖPNV im regionalen Bereich attraktiver machen.