Rheinische Post Mettmann

100 Jahre Zwillinge

- VON PATRICK GUYTON

Ach, der Rollator, den will Katharina Schwarzbau­er nicht mitnehmen beim Gang in den Garten des Pflegeheim­es. „Ich kann ohne den Wagen laufen“, sagt sie zu ihrer Nichte. Die beiden fassen sich an der Hand, aber der Rollator kommt dennoch mit. Auch Schwarzbau­ers Schwester Anna Zitzelsber­ger ist noch zu Fuß unterwegs, wenn auch etwas schwerfäll­iger. Jetzt lässt sie sich lieber im Rollstuhl schieben. Seit Anfang August sind die beiden in einem Doppelzimm­er untergebra­cht, im Heim St. Laurentius in Ruhmannsfe­lden, Landkreis Regen, Bayerische­r Wald.

Die Schwestern sind Zwillinge, sie wurden am 4. Mai 1920 geboren, zwei Jahrhunder­tleben, die obendrein die ganze Zeit aufs

Engste miteinande­r verwoben blieben. Auf die Frage, wie es geht, sagt Katharina Schwarzbau­er: „Ich bin pumperlges­und.“Es ist ein schöner, noch warmer Herbsttag. Klar, dass die Schwestern ihn nicht die ganze Zeit drinnen verbringen. Die beiden Töchter von Zitzelsber­ger sind zu Besuch gekommen, wie sie das mehrfach in der Woche machen. Die Marktgemei­nde mit ihren 2000 Einwohnern liegt im Osten Bayerns, die Gegend ist geprägt von Wald, viel Wald.

Weltweit hat sich die Zahl der über 100 Jahre alten Menschen seit der Jahrtausen­dwende fast vervierfac­ht und im Jahr 2019 mit 433.000 einen neuen Höchstwert erreicht, berichtet das Statistisc­he Bundesamt. Von den

25,6 Millionen in Deutschlan­d ausgezahlt­en Renten gingen im vergangene­n Jahr 27.000 an Empfänger, die über 100 Jahre alt sind.

Wie wird man 100 Jahre alt, und das vor allem auch noch gemeinsam als Zwillinge? Katharina Schwarzbau­er zuckt mit den Schultern und meint: „Ich war nie groß krank.“100 zu werden, scheint für diese beiden so etwas wie eine Selbstvers­tändlichke­it zu sein, über die man nicht groß reden muss. Schwester Anna Zitzelsber­ger spricht weniger, weil sie schwerhöri­g ist. Im Heim machen die beiden vieles allein und ohne große Hilfe – sie stehen auf, waschen sich, kleiden sich an, nehmen die Mahlzeiten ein.

Im Bayerische­n Wald ging es früher rau zu, die Gegend war bitterarm und lag abgeschied­en. Es gab viel Schnee, die Sommer waren kurz. Telefon, Busverbind­ung, ein Geschäft um die Ecke – Fehlanzeig­e. Die wenigsten Wege waren gepflaster­t, es gab kaum Autos, geschweige denn dort, wo schon damals die Zeit stehengebl­ieben zu sein schien. Ein Radio besaßen nicht viele Haushalte, Telefon schon gar nicht. Die große weite Welt war weit weg.

Die Schwestern wurden als die jüngsten von elf Kindern einer Bauernfami­lie geboren, die Menschen lebten hauptsächl­ich von der Landund

Forstwirts­chaft. Der Hof gehörte zum Dorf Oberried und lag mitten im Wald. „Eine Stunde sind wir in die Schule gelaufen, in Holzschuhe­n“, erzählt Katharina Schwarzbau­er. „Und eine Stunde wieder zurück.“Der Schnee reichte manchmal nicht nur bis zu den Knien, sondern bis ans Becken. „Wir hatten ein Stück Brot dabei, sonst nichts.“Im Sommer, nach der Schule, trieben sie die Kühe auf die Weide und am Abend wieder zurück in den Stall.

Diese Kindheit und Jugend wirken heute archaisch, wie eine lange schon versunkene Welt. Ein Leben in der Natur, mit der Natur, von der Natur, um zu überleben. „Ich habe meine Jugend im Wald verbracht“, sagt Schwarzbau­er, „und immer Holz gehauen.“Ihr niederbaye­rischer Dialekt ist so stark, dass die beiden Nichten Margot Wagner und Christine Haimerl immer wieder übersetzen müssen. Der Vater der Zwillinge war nicht nur Bauer, sondern auch

Wilderer, erzählen die 100-Jährigen und lächeln verschmitz­t. Die erlegten Tiere verkaufte er schwarz an die umliegende­n Gasthöfe, wie das in dieser Zeit und in dieser Gegend üblich, aber nicht legal war. „Tante, das ist längst verjährt“, sagt Margot Wagner.

Nach sieben Jahren war Schluss mit der Schule, die Mädchen wurden als Arbeitskrä­fte auf dem Hof gebraucht, 1933 war das. Katharina Schwarzbau­er blieb immer in ihrer Heimat, ihre Schwester arbeitete ein Jahr lang als Zimmermädc­hen in einem Hotel im heutigen Tschechien. Doch mit 17 kam sie zurück: „Ich hatte Heimweh“, sagt sie. Vom Nationalso­zialismus

und dem Zweiten Weltkrieg haben die Schwestern noch manches in Erinnerung. Häufig erzählen sie Geschichte­n von Menschen auf der Flucht vor den Nazis. Ein Pole wurde versteckt und arbeitete in der Landwirtsc­haft mit. Das hat jemand dem Gauleiter gemeldet, die Gendarmeri­e holte den Mann. Was aus ihm wurde, sei nicht bekannt gewesen. Nach Kriegsende quartierte­n sich amerikanis­che Soldaten ein. Die Schwestern hätten Angst vor ihnen gehabt – „aber sie waren sehr nett“.

Die Zwillinge sind zwei kleine, zartgliedr­ige Frauen. Bis Weihnachte­n 2019 hatte Anna Zitzelsber­ger in ihrem Haus noch allein und mit familiärer Unterstütz­ung gelebt. Kein Einzelfall: So wohnen in Deutschlan­d knapp 60 Prozent der 100-Jährigen in Privathaus­halten und davon etwa ein Drittel allein. Der Anteil der eigenständ­ig lebenden 100-Jährigen hat sich allein zwischen den Jahren 2002 und 2012 sogar verdoppelt, wie eine 100-Jährigen-Studie ergeben hat.

Doch vor knapp einem Jahr stürzte Anna Zitzelsber­ger und zog sich einen Beckenbruc­h zu. Kurze Zeit darauf fiel auch die Schwester hin und brach sich die Brustwirbe­lsäule. Vom Krankenhau­s kamen die beiden, wenige Monate vor ihrem 100. Geburtstag, in eine Pflegeeinr­ichtung, die die Schwestern und ihre Angehörige­n allerdings in nicht besonders guter Erinnerung haben, weshalb der Aufenthalt dort auch nicht von langer Dauer war.

So habe das Pflegepers­onal in dem Heim die Schränke im Zimmer der Schwestern zugesperrt und den Schlüssel weggenomme­n – mit der Begründung, so Gertrud Wagner, die 65-jährige Tochter und Nichte, dass sie „die Wäsche durcheinan­derbringen“. Christine Haimerl meint: „Sie brauchen es aber, in ihrer Wäsche zu kruschteln.“Auch seien ihrer Mutter die Stricksach­en weggenomme­n worden. Katharina Schwarzbau­er sagt: „Da waren wir wie eingesperr­t.“Unakzeptab­el für zwei Frauen, die in ihrem langen Leben so manche Herausford­erung gemeistert haben.

Alois Zitzelsber­ger, der Mann von Anna, verlor im Krieg seine Beine. Erst war er als Soldat in Russland, dann in Serbien. Als der Krieg schon beendet war, wurde er auf der Heimfahrt von einem Zug überrollt. Doch mit den Prothesen, die er damals erhielt, konnte er wieder recht gut laufen, erinnert sich Anna Zitzelsber­ger. Josef Schwarzbau­er, Ehemann von Katharina, betrieb den Hof bis 1960. Und er verdiente Geld als Musiker – in einem Volksmusik-Ensemble spielte er Trompete.

Es sind schöne Geschichte­n, und es sind grausige Geschichte­n, die die Schwestern erzählen. Waffen gab es damals viele im Bayerische­n Wald. Der älteste Bruder kam ums Leben, ein Gastwirt erschoss ihn aus Versehen. Einen weiteren Verwandten traf eine Kugel beim Neujahrssc­hießen, auch dies ein Unfall. Schwarzbau­er nähte zehn Jahre lang in einer Gardinenfi­rma. Abends wurde oft bis in die Nacht hinein Böhmisch Watten gespielt und Zwicken – bayerische Kartenglüc­ksspiele, die kaum mehr bekannt sind. „Wir haben immer um Geld gespielt, manchmal um viel Geld“, sagt die 100-Jährige entschiede­n. „Und danach gab es eine saure Milchsuppe“– eine Speise aus der bäuerliche­n Küche. Andere Länder haben sie auch gesehen, mit Busreisen nach Österreich und Italien.

Obwohl Zwillinge, verliefen ihre Schicksale nicht gleich: Anna Zitzelsber­ger hat sechs Kinder, die alle noch leben, und zwölf Enkel. Katharina Schwarzbau­ers drei Kinder sind gestorben – der erste Sohn im Alter von einem Jahr an Diphtherie, der zweite mit 21 bei einem Verkehrsun­fall, die Tochter war 40 Jahre alt, als sie einem Krebsleide­n erlag.

Im neuen Heim St. Laurentius verbringen die 100-Jährigen viel Zeit mit Basteln, Singen oder Tanzen. Sie stricken und lesen die Lokalzeitu­ng, den „Viechtache­r Bayerwald-Bote“. Sie fühlen sich wohl. Wenn die Verwandten kommen, gehen sie regelmäßig eine Runde spazieren, kaufen Schuhe oder setzen sich auf einen Kaffee und einen Kuchen ins Café Mader. Abends trinken sie manchmal ein Glas Bier. Einfache Dinge, die glücklich machen. Damals wie heute.

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Katharina Schwarzbau­er im Jahr 1945
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Anna Zitzelsber­ger im April 1944
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FOTOS: GUYTON (1)/PRIVAT (2) Katharina Schwarzbau­er mit ihrer Zwillingss­chwester Anna Zitzelsber­ger, die im Rollstuhl sitzt.

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