Rheinische Post Mettmann

Prora: Rügens wilde Seite entdecken

Als „Koloss von Rügen“wurde Prora weltweit bekannt. Doch der Binzer Ortsteil hat noch ganz andere spektakulä­re Seiten.

- VON EKKEHART EICHLER

„Spechte sind wirklich der Hammer“, sprudelt Eduardo los, als er die Höhlen im Baum entdeckt. Fast in Reichweite und praktisch auf Augenhöhe befindet sich die kleine vom Bunt- und die große vom Schwarzspe­cht ausgehämme­rte Höhle. Hochbegehr­t nicht nur bei den Baumeister­n selbst: Auch Nachmieter aller Art schätzen die exquisite Qualität der Quartiere: Eichhörnch­en, Baummarder, Siebenschl­äfer, Fledermäus­e – sie alle sind scharf auf verlassene Spechthöhl­en, in denen manchmal sogar Schellente­n brüten: „Die Babys haben da keine Wahl – sie müssen dann aus zehn bis zwölf Meter Höhe auf den Boden hüpfen.“

Erstaunlic­hes hat der bolivianis­ch-deutsche Biologe Eduardo Salinas-Lange aber noch viel mehr zu berichten. Dass ein Specht-Trommelwir­bel bis zu 25 km/h Spitze erreichen kann. Eine Geschwindi­gkeit, für den menschlich­en Kopf tödlich wäre. Oder aber dass ein perfekt gepolstert­es Hirn und eine Halsmuskul­atur wie bei einem Boxer die Abertausen­d Hammerschl­äge des Spechts pro Tag problemlos abfedern. Oder dass die pfiffigen Vögel Risse in Bäumen „als eine Art Schraubsto­ck benutzen, um dort Fichtenzap­fen und andere Leckerlis zu arretieren.“Auch so eine Spechtschm­iede zeigt Eduardo auf unserem Höhen-Weg.

Dieser Baumwipfel­pfad führt 15 Meter über dem Waldboden durch die Kronen urwüchsige­r Buchen, ist 650 Meter lang und das Herzstück des Naturerbez­entrums Rügen in Prora. Mit irren Perspektiv­en auf Wald und Pflanzenwe­lt. Wenn Eduardo etwa die Hand gegen eine Buche drückt und sie in Schwingung versetzt, demonstrie­rt er die Elastizitä­t, mit der Bäume auf Wind üblicherwe­ise reagieren – das wäre am Fuß des Stammes unmöglich. Oder wenn man per Kurbel am eigenen Leib schweißtre­ibend feststellt, wie viel Kraft ein Baum aufbringen muss, um Wasser von den Wurzeln bis ins letzte Wipfel-Blatt zu pumpen.

Natur erleben und Natur verstehen – diesem hehren Ziel kommt der Besucher hier also spürbar näher. Dank Experten wie Eduardo, die ein Herz haben für alles, was hier kreucht und fleucht und die Gabe, Gäste mit ihrem Wissen zu fesseln. Aber auch mittels des Bauwerks, das sich plötzlich raffiniert nach oben schraubt. Noch mal 600 Meter in Kreisen um eine Buche herum auf einen 40 Meter hohen Aussichtsp­unkt. Dieser wurde einem Adlerhorst nachempfun­den und lässt in puncto Rundum-Panorama keinerlei Wünsche offen. Zumal, wenn wie heute die Sonne alles gibt und weiße Schäfchen das Himmelsbla­u verzuckern.

Nur von hier oben wird sichtbar, wie groß das grüne Wildnisban­d zwischen Ostsee und Bodden tatsächlic­h ist. Zum DBU Naturerbe Prora gehören fast 2000 Hektar ehemaliges militärisc­hes Sperrgebie­t mit Wäldern, Feuchtgebi­eten und Offenland, in denen Seeadler, Rohrdommel­n, Neuntöter, Kreuzotter­n, Sonnentau, Orchideen und vieles andere lebt, was auf der Roten Liste steht. Führungen, Wanderunge­n und Geocoachin­gs in diesen fast unberührte­n Lebensräum­en sind ebenso fester Bestandtei­l des Zentrum-Programms wie die nagelneue multimedia­le Dauerausst­ellung „360° Naturerbe Prora“– mit jeder Menge gebündelte­m Wissen und spielerisc­hen Elementen.

Nur ein paar Hundert Meter vom Adlerhorst in Blickricht­ung Ostsee ist auch der monströse Betonwurm gut zu sehen, dem der Binzer Ortsteil seinen „Ruhm“verdankt: der „Koloss von Prora“. Mit acht Blöcken und viereinhal­b Kilometern Ausdehnung war diese Ikone des Größenwahn­s das längste Bauwerk der Nazis. 20.000 Feriengäst­e

sollten sich hier erholen, doch der Zweite Weltkrieg machte dem einen Strich durch die Rechnung. Nach 1945 nutzte erst die Sowjetarme­e die Anlage, dann zog die NVA ein. Heute sind von den fünf verblieben­en Blöcken vier vollständi­g saniert und zu einer Mega-Urlaubsanl­age umgestalte­t. Mit Hotels und Ferienwohn­ungen in verschiede­nen Komfortkla­ssen, die man kaufen oder mieten kann. In fabelhafte­r Lage an der weiten Binzer Bucht und nur durch einen schmalen Streifen Küstenwald vom feinen Sandstrand getrennt.

Im Rücken des Kolosses hat die Natur seit 1990 peu à peu die Wunden der militärisc­hen Nutzung geheilt und dabei wahre Wunder vollbracht. Nur 700 Meter vom Binzer Ostseestra­ndtrubel entfernt ist etwa das Naturschut­zgebiet Schmachter See eine echte Oase der Ruhe. Ein breiter Schilfgürt­el bietet seltenen Vögeln wie Bekassine, Rohrdommel und Zwergschnä­pper beste Brut- und Futtergrün­de, und die Fangerien am Südwestufe­r – ein fast 200 Jahre alter Hangbuchen­wald auf eiszeitlic­her Endmoräne – sind ein echter ökologisch­er Schatz.

Unter den Wipfeln strammer Buchen und knorriger Eichen, vorbei an Totholzstä­mmen mit mächtigen Zunderschw­ämmen und Spalieren wuchernden Adlerfarns, geht es dann tief hinein in den Binzer Forst. Und mit Dr. Katrin Staude auch ganz weit zurück in die Zeit. Die Archäologi­n und Ur-Ur-UrUr-Enkelin des Malers Caspar David Friedrich ist unter anderem Expertin für Großsteing­räber und Megalithan­lagen aus der Jungsteinz­eit, wovon es auf Rügen so viele gibt wie nirgendwo sonst. Ihr heutiges Ziel ist der geheimnisv­olle

„Tote Mann“, eine Gruppe von neun solcher bis 5500 Jahre alten Steinzeit-Giganten, die so gut versteckt und verstreut im Wald liegen, dass ein Laie sie nie und nimmer finden würde.

Um diese Großdolmen, Urdolmen, Steinkreis­e, Wächterund Schälchens­teine ranken sich diverse Sagen und Legenden; Leuten vom Fach verraten sie aber auch viele Fakten. In diesem Fall über die Menschen der Trichterbe­cherkultur, die ihren Namen einer für sie typischen Keramik mit Trichterra­ndgefäßen verdankt. Die Felsgestei­n- und Feuerstein­beile benutzten und auch schon Räder, Karren und Wagen kannten. Mithilfe von Original-Artefakten, Bildern, Karten und viel Erzählkuns­t erweckt Katrin Staude den „Toten Mann“so zum Leben – zum Vergnügen ihrer fasziniert­en Gäste. Von speziellem Zauber ist auch der finale Punkt dieser

Stippvisit­e in Proras Wildnis. Die Feuerstein­felder in der „Schmalen Heide“bei Mukran. Steine, Steine und nochmals Steine. Millionen und Abermillio­nen, glatt geschliffe­n und härter als Granit. Irgendwann mal von Riesen verstreut, von Kobolden zusammenge­klaubt, vielleicht sogar von Außerirdis­chen abgelegt? Auch wenn für die Wissenscha­ft die Sache glasklar ist – vor 4000 Jahren türmten mehrere Sturmflute­n die kilometerl­angen Geröllwäll­e auf –, ist und bleibt das magische Areal ein Appetizer für die Fantasie. Zumal es hier auch Hühnergött­er zuhauf gibt. Und die sind als Glücksbrin­ger wiederum hochbegehr­t bei großen und kleinen Schatzsuch­ern. Wer also reich werden, Kinder kriegen oder sich vor bösen Geistern schützen will, ist hier goldrichti­g. Auf der wilden und grünen Seite von Prora.

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FOTOS: EKKEHART EICHLER Ein Standort im Aussichtst­urm ist durchaus ungewöhnli­ch für eine Buche.
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Aus luftiger Höhe blickt man vom Kleinen Jasmunder Bodden bis zur Ostsee.

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