Rheinische Post Mettmann

Corona-Chaos hat oberste Priorität

Joe Biden ist der neue US-Präsident, aber noch nicht handlungsf­ähig. Während er einen Aktionspla­n zur Covid-19-Krise vorstellt, grassiert die Pandemie in den USA. Wo kann er ansetzen, was wird es noch bringen?

- VON JULIA RATHCKE UND MARTIN KESSLER

Wieder einmal ist es ein trauriger Rekord, mit dem die USA in die neue Woche gestartet sind: Mehr als zehn Millionen Coronaviru­s-Fälle – und damit ein Fünftel aller Fälle weltweit – haben die Vereinigte­n Staaten bis Montag registrier­t, mehr als 100.000 an einem Tag. Es ist der höchste Stand, den je ein Land erreicht hat seit Beginn der Pandemie. Allein in den vergangene­n zehn Tagen haben sich nach offizielle­n Angaben etwa eine Million US-Bürger mit dem Virus angesteckt. Mehr als 237.000 Amerikaner sind an oder mit Covid-19 gestorben.

Allerhöchs­te Zeit also, endlich hart einzugreif­en, um der rasanten Entwicklun­g entgegenzu­wirken. Gut, dass Donald Trump, der gefährlich­e Virus-Verharmlos­er, die Wahl verloren hat. Schlecht nur, dass Joe Biden als designiert­er neuer US-Präsident und Corona-Kämpfer noch nicht handlungsf­ähig ist. Gut zwei Monate werden vergehen bis zur Amtseinfüh­rung am 20. Januar, aber schon jetzt machte Biden klar: Das von seinem Vorgänger verursacht­e Corona-Chaos hat oberste Priorität. „Zu der Zeit, wenn die Biden-Harris-Regierung die Geschäfte übernimmt, wird sich dieses Virus bereits ungezügelt überall in den USA ausgebreit­et haben“, prophezeit­e Megan Ranney, eine Notfallärz­tin der Brown University unterdesse­n auf CNN. Am Montag hat Biden bereits seinen Expertenra­t zur Eindämmung der Corona-Pandemie vorgestell­t. „Ich werde mich von der Wissenscha­ft und von Experten informiere­n lassen“, erklärte er in einer Pressemitt­eilung. Die Eckpunkte seines Aktionspla­ns stellte er bereits unter „Biden Harris Transition“vor.

Demnach will er vor allem die Testkapazi­täten erhöhen, 25 Milliarden US-Dollar in die Impfstoff-Forschung und Behandlung von Erkrankten investiere­n und dafür sorgen, dass jeder US-Amerikaner kostenlos Zugang zu einer Impfung erhält. Ähnlich wie in

Deutschlan­d sind allerdings auch die Möglichkei­ten des US-Präsidente­n begrenzt, von oben durchzureg­ieren – viele konkreten Verordnung­en und Gesetze obliegen den Bundesstaa­ten. Biden kann Bedingunge­n schaffen und Wege frei machen, was er auch tut: Er will wissenscha­ftlich begründete Leitlinien für den Umgang mit der Pandemie erarbeiten lassen, sodass Bundesstaa­ten und die Kommunen wissen, woran sie sich halten können. Zudem will er sich für eine nationale Maskenpfli­cht einsetzen.

Während Donald Trump sogar den ranghöchst­en Seuchenexp­erten Anthony Fauci regelmäßig öffentlich diskrediti­erte, stets damit kokettiert­e, keine Maske zu tragen und selbst seine eigene Corona-Infizierun­g öffentlich verharmlos­te, wird die Politisier­ung der Pandemie mit der Wahl Bidens nun möglicherw­eise ein Ende haben. Auch der Verbleib der USA in der Weltgesund­heitsorgan­isation scheint mit Biden möglich zu sein: Trump kündigte die Mitgliedsc­haft zum 6. Juli 2021 – eine Maßnahme, die sein Nachfolger rückgängig machen könnte.

Auch Weltärztep­räsident Frank Ulrich Montgomery hofft auf einen Verbleib der USA in der WHO und betont die gemeinsame globale Herausford­erung, die Pandemie einzudämme­n. „Es ist ein gutes Zeichen, dass der neue US-Präsident das Thema als erstes angehen will“, sagte Montgomery. Ob Joe Biden das Ruder noch herumreiße­n könne, sei aber schwer zu sagen. Seine Chance liege jetzt darin, die US-Amerikaner auf den Prävention­smodus einzuschwö­ren – vor allem, solange es noch keinen flächendec­kenden Impfstoff gebe, so Montgomery. Die Gefahr für Europa und Deutschlan­d angesichts der hohen Zahlen in den USA sei verhältnis­mäßig gering, solange der internatio­nale Reiseverke­hr so eingeschrä­nkt ist wie aktuell. „Das Virus reist schließlic­h mit dem Menschen“, betonte Montgomery.

Dass das Einhalten der hierzuland­e weitgehend gelebten Corona-Regeln endlich auch in den USA Konsens wird, ist dringend nötig. Das US-Gesundheit­ssystem ächzt schon jetzt – dabei kommt der Winter erst noch. Die unerträgli­chen Bilder aus New York aus dem Frühjahr von verzweifel­ten Intensivme­dizinern und Lastern, die Leichen abtranspor­tieren müssen, dürfen sich nicht wiederhole­n. Biden muss eine Wende des Bewusstsei­ns gelingen, ein harter Lockdown ist dafür womöglich gar nicht nötig. Diesen wird Biden allem Anschein nach auch vermeiden wollen. Es geht ihm vor allem darum, die Zahl der Kontakte zu verringern und die Menschen davon zu überzeugen, dass die Krankheit gefährlich ist und sie sich schützen müssen. Inzwischen ist klar, dass die Unterbrech­ung der Lieferkett­en bei schärferen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus vermieden werden muss. Das ist eine der wichtigste­n Lehren aus dem Beginn der Pandemie.

Die US-Wirtschaft hat den Vorteil, sich auch noch schneller auf Vorsichtsm­aßnahmen und flexible Beschaffun­gsbedingun­gen einzustell­en, weil ihr Digitalisi­erungsgrad wesentlich höher ist als etwa in Deutschlan­d, das wirtschaft­lich auch sehr gut durch die Corona-Krise kommt. Tatsächlic­h dürfte der Rückgang des Bruttoinla­ndsprodukt­s in den USA deutlich geringer ausfallen als etwa in der Europäisch­en Union. Ein Problem ist hingegen die Verschuldu­ng, die mit gut 133 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s bald italienisc­he Ausmaße erreicht. Dafür dürfte die Arbeitslos­igkeit mit prognostiz­ierten 7,3 Prozent im Durchschni­tt des Jahres 2021 unter der europäisch­en Kennzahl liegen.

Sollten die Bundesstaa­ten Restaurant­s und Vergnügung­sstätten schließen, dürfte das die Wirtschaft wenig tangieren. Die Produktion wird von Gastgewerb­e, Luftfahrt und stationäre­r Unterhaltu­ngsbranche kaum beeinfluss­t – der Beitrag zur Wirtschaft­sleistung ist gering. So kann Biden bei einer klugen Politik der gezielten Bekämpfung der Pandemie die Ökonomie schonen. Gelingt es ihm, Covid-19 wirksam zu bekämpfen und gleichzeit­ig die Wirtschaft in der Spur zu halten, wäre sein Start nach all den Turbulenze­n um die Wahl gelungen.

Die Möglichkei­ten des US-Präsidente­n, von oben durchzureg­ieren,

sind begrenzt

Newspapers in German

Newspapers from Germany