Die Krise verstärkt die Sucht
Für suchtkranke Menschen ist die Zeit des Lockdowns eine Zerreißprobe. Wie sollen sie das schaffen? Ohnehin ist seit Beginn der Pandemie etwa der Alkoholkonsum deutlich gestiegen. Ein Einblick in den Kampf gegen sich selbst.
DÜSSELDORF Mittwochabend, 17.50 Uhr, die ersten Teilnehmer der Gruppe für Suchtkranke warten schon vor der Tür. Die Lage macht sie ungeduldig. Es herrscht Lockdown, zwar „light“, aber immerhin. Die Gruppenmitglieder fragen sich, was das für sie bedeutet. Kann der alkoholkranke Familienvater jetzt nicht mehr ins Fitnessstudio, seinen letzten Zufluchtsort? Stürzt die Freundin wieder ab, so wie schon beim ersten Lockdown?
16 Leute sind an diesem Abend gekommen, mehr als sonst. Sie müssen sich auf zwei Räume verteilen. Sonst klappt das nicht mit dem Abstand. Das Treffen findet in der Hubertusstraße 3 statt, in den Räumen des Kreuzbunds Düsseldorf. Der Kreuzbund, das ist ein gemeinnütziger Verein, der Menschen mit Suchtproblemen helfen will, vor allem durch gemeinsame Treffen und Gespräche. 1300 solcher Selbsthilfegruppen gibt es in ganz Deutschland, rund 22.000 Menschen treffen sich Woche für Woche an Orten wie der Hubertusstraße. Den Eingang könnte man fast übersehen, stehen doch Landtag und Rheinkniebrücke in unmittelbarer Nachbarschaft. Doch für die 300 Menschen, die in Düsseldorf zu den Gruppentreffen kommen, ist der Ort wichtiger als jede Verkehrsachse und jede Plenarsitzung.
Für Paul* zum Beispiel, der während des ersten Lockdowns wieder Kokain genommen hat. Anfang August hat ihn seine Frau auf die Straße gesetzt, sieben Jahre Beziehung und drei Jahre Ehe schienen vorbei. „Ich hatte mich in meiner Parallelwelt aus Alkohol und Koks vergraben“, sagt Paul. Als es kein Bier mehr zu Hause gab, schlich er heimlich in die Küche und kippte Korn oder Ouzo in sich rein.
Würde man Paul auf der Straße treffen, würde man mit hoher Wahrscheinlichkeit denken: Der hat sein Leben im Griff. Schick gekleidet, Hochverdiener, gutaussehend. Seine Frisur sitzt perfekt, selbst abends nach der Arbeit, die schwarzen Schuhe glänzen sauber. Er ist Partner in seiner Firma, trägt Verantwortung für einige Mitarbeiter.
Doch Paul hat sein Leben gar nicht im Griff.
Wie sich das anfühlt, weiß Klaus Kuhlen nur zu gut. Der 63-Jährige moderiert an diesem Abend die Gespräche der Gruppe, er ist jüngst stellvertretender Vorsitzender des Kreuzbunds geworden. Früher war er Alkoholiker. „Party, Altstadt, 70er Jahre“, so beschreibt er die Anfänge seiner Sucht. Mit 14 fing er mit dem Saufen an, noch ein halbes Jahrhundert später bestimmt das sein Leben. Seine Ehe zerbrach daran, eine lange Beziehung auch, er gab seinen Beruf auf. 2014 kam für Kuhlen die Wende: Er machte eine Therapie in einer Klinik, hat sein Leben anderthalb Jahre „ruhen lassen“, wie er sagt. Er fing an, sich sozial zu engagieren. Weil seine Erfahrung anderen hilft und weil ihn das glücklich macht, sagt Kuhlen. Aber auch aus Selbstschutz: „Wer trocken bleiben will, muss sich Hindernisse bauen. Wenn man fällt, tut es weh. Ich stehe durch mein Engagement so sehr in der Öffentlichkeit, dass ich mir keinen Rückfall erlauben kann. Das schützt mich.“Also sitzt Kuhlen da an mehreren Tagen die Woche neben seinem Job in einer Förderschule, hilft anderen und schützt sich selbst. Als wäre das alles nicht schon schwierig genug, kommt jetzt die Pandemie dazu. „Pandemie bedeutet Angst“, sagt Kuhlen.
„Der November ist sowieso Krisenzeit“, sagt Marcus Lahrmann.
Er ist Sprecher der Caritas für NRW. Aus Gesprächen mit seinen Kollegen berichtet Lahrmann, dass die Situation gerade ziemlich angespannt ist. Der Druck sei gewachsen, wirtschaftlich und sozial. Einer Umfrage der Kaufmännischen Krankenkasse zufolge ist der Konsum von Alkohol und Tabak während der Corona-Krise deutlich gestiegen. Wer mehrmals in der Woche Alkohol zu sich nimmt, trinkt seit Beginn der Pandemie ein Viertel mehr als davor. Ein Drittel der Befragten zwischen 16 und 29 Jahren gaben an, seit dem Anfang der Krise mehr zu rauchen. „Die erhöhte Suchtgefahr ist nicht von der Hand zu weisen“, sagt Lahrmann. „Kurzarbeit, Homeoffice und Kündigungen tragen dazu bei, die Einstellung von sozialen Kontakten auch“, sagt er.
Martha* hat Angst davor, dass ihr alkoholsüchtiger Mann jetzt doch keine eigene Wohnung finden wird. Er beliefert die Gastronomie, eigentlich sollte er ausziehen und auf eigenen Füßen stehen. Das wird wohl nichts. Also muss sie seine Sucht ertragen und mitfinanzieren.
Paul versucht seit Monaten, einen Klinikplatz zu bekommen, um seine Sucht in den Griff zu bekommen. Wegen der Pandemie sei das aktuell noch schwieriger als sonst, sagt er. Dazu kommt der Stress im Job. Das Geld wird wegen der Corona-Krise knapp, für zwei, drei Monate reicht es noch. Wenn bis dahin kein neues Geld reinkommt, muss Paul vielleicht Mitarbeiter entlassen. Die Verantwortung wiegt schwer.
Anderthalb Stunden reden die Teilnehmer über ihren Kampf mit der Sucht. Danach sehen sie entspannter aus. Sie wünschen sich eine schöne Woche, manche bleiben dann eine Weile zusammen vor der Tür. Raucherpause, eine gute Gelegenheit, um den Abschied noch ein wenig zu verzögern. Kuhlen verfolgt in den Tagen darauf die Nachrichten, telefoniert mit dem Ordnungsamt. Die Gruppe darf am Mittwoch wieder zusammenkommen, trotz des Lockdowns. Die Treffen sind systemrelevant. Vielleicht mehr denn je.
*Die Namen der Teilnehmer der Selbsthilfegruppe wurden von der Redaktion geändert.