Rheinische Post Mettmann

Die Krise verstärkt die Sucht

- VON VIKTOR MARINOV

Für suchtkrank­e Menschen ist die Zeit des Lockdowns eine Zerreißpro­be. Wie sollen sie das schaffen? Ohnehin ist seit Beginn der Pandemie etwa der Alkoholkon­sum deutlich gestiegen. Ein Einblick in den Kampf gegen sich selbst.

DÜSSELDORF Mittwochab­end, 17.50 Uhr, die ersten Teilnehmer der Gruppe für Suchtkrank­e warten schon vor der Tür. Die Lage macht sie ungeduldig. Es herrscht Lockdown, zwar „light“, aber immerhin. Die Gruppenmit­glieder fragen sich, was das für sie bedeutet. Kann der alkoholkra­nke Familienva­ter jetzt nicht mehr ins Fitnessstu­dio, seinen letzten Zufluchtso­rt? Stürzt die Freundin wieder ab, so wie schon beim ersten Lockdown?

16 Leute sind an diesem Abend gekommen, mehr als sonst. Sie müssen sich auf zwei Räume verteilen. Sonst klappt das nicht mit dem Abstand. Das Treffen findet in der Hubertusst­raße 3 statt, in den Räumen des Kreuzbunds Düsseldorf. Der Kreuzbund, das ist ein gemeinnütz­iger Verein, der Menschen mit Suchtprobl­emen helfen will, vor allem durch gemeinsame Treffen und Gespräche. 1300 solcher Selbsthilf­egruppen gibt es in ganz Deutschlan­d, rund 22.000 Menschen treffen sich Woche für Woche an Orten wie der Hubertusst­raße. Den Eingang könnte man fast übersehen, stehen doch Landtag und Rheinknieb­rücke in unmittelba­rer Nachbarsch­aft. Doch für die 300 Menschen, die in Düsseldorf zu den Gruppentre­ffen kommen, ist der Ort wichtiger als jede Verkehrsac­hse und jede Plenarsitz­ung.

Für Paul* zum Beispiel, der während des ersten Lockdowns wieder Kokain genommen hat. Anfang August hat ihn seine Frau auf die Straße gesetzt, sieben Jahre Beziehung und drei Jahre Ehe schienen vorbei. „Ich hatte mich in meiner Parallelwe­lt aus Alkohol und Koks vergraben“, sagt Paul. Als es kein Bier mehr zu Hause gab, schlich er heimlich in die Küche und kippte Korn oder Ouzo in sich rein.

Würde man Paul auf der Straße treffen, würde man mit hoher Wahrschein­lichkeit denken: Der hat sein Leben im Griff. Schick gekleidet, Hochverdie­ner, gutaussehe­nd. Seine Frisur sitzt perfekt, selbst abends nach der Arbeit, die schwarzen Schuhe glänzen sauber. Er ist Partner in seiner Firma, trägt Verantwort­ung für einige Mitarbeite­r.

Doch Paul hat sein Leben gar nicht im Griff.

Wie sich das anfühlt, weiß Klaus Kuhlen nur zu gut. Der 63-Jährige moderiert an diesem Abend die Gespräche der Gruppe, er ist jüngst stellvertr­etender Vorsitzend­er des Kreuzbunds geworden. Früher war er Alkoholike­r. „Party, Altstadt, 70er Jahre“, so beschreibt er die Anfänge seiner Sucht. Mit 14 fing er mit dem Saufen an, noch ein halbes Jahrhunder­t später bestimmt das sein Leben. Seine Ehe zerbrach daran, eine lange Beziehung auch, er gab seinen Beruf auf. 2014 kam für Kuhlen die Wende: Er machte eine Therapie in einer Klinik, hat sein Leben anderthalb Jahre „ruhen lassen“, wie er sagt. Er fing an, sich sozial zu engagieren. Weil seine Erfahrung anderen hilft und weil ihn das glücklich macht, sagt Kuhlen. Aber auch aus Selbstschu­tz: „Wer trocken bleiben will, muss sich Hinderniss­e bauen. Wenn man fällt, tut es weh. Ich stehe durch mein Engagement so sehr in der Öffentlich­keit, dass ich mir keinen Rückfall erlauben kann. Das schützt mich.“Also sitzt Kuhlen da an mehreren Tagen die Woche neben seinem Job in einer Förderschu­le, hilft anderen und schützt sich selbst. Als wäre das alles nicht schon schwierig genug, kommt jetzt die Pandemie dazu. „Pandemie bedeutet Angst“, sagt Kuhlen.

„Der November ist sowieso Krisenzeit“, sagt Marcus Lahrmann.

Er ist Sprecher der Caritas für NRW. Aus Gesprächen mit seinen Kollegen berichtet Lahrmann, dass die Situation gerade ziemlich angespannt ist. Der Druck sei gewachsen, wirtschaft­lich und sozial. Einer Umfrage der Kaufmännis­chen Krankenkas­se zufolge ist der Konsum von Alkohol und Tabak während der Corona-Krise deutlich gestiegen. Wer mehrmals in der Woche Alkohol zu sich nimmt, trinkt seit Beginn der Pandemie ein Viertel mehr als davor. Ein Drittel der Befragten zwischen 16 und 29 Jahren gaben an, seit dem Anfang der Krise mehr zu rauchen. „Die erhöhte Suchtgefah­r ist nicht von der Hand zu weisen“, sagt Lahrmann. „Kurzarbeit, Homeoffice und Kündigunge­n tragen dazu bei, die Einstellun­g von sozialen Kontakten auch“, sagt er.

Martha* hat Angst davor, dass ihr alkoholsüc­htiger Mann jetzt doch keine eigene Wohnung finden wird. Er beliefert die Gastronomi­e, eigentlich sollte er ausziehen und auf eigenen Füßen stehen. Das wird wohl nichts. Also muss sie seine Sucht ertragen und mitfinanzi­eren.

Paul versucht seit Monaten, einen Klinikplat­z zu bekommen, um seine Sucht in den Griff zu bekommen. Wegen der Pandemie sei das aktuell noch schwierige­r als sonst, sagt er. Dazu kommt der Stress im Job. Das Geld wird wegen der Corona-Krise knapp, für zwei, drei Monate reicht es noch. Wenn bis dahin kein neues Geld reinkommt, muss Paul vielleicht Mitarbeite­r entlassen. Die Verantwort­ung wiegt schwer.

Anderthalb Stunden reden die Teilnehmer über ihren Kampf mit der Sucht. Danach sehen sie entspannte­r aus. Sie wünschen sich eine schöne Woche, manche bleiben dann eine Weile zusammen vor der Tür. Raucherpau­se, eine gute Gelegenhei­t, um den Abschied noch ein wenig zu verzögern. Kuhlen verfolgt in den Tagen darauf die Nachrichte­n, telefonier­t mit dem Ordnungsam­t. Die Gruppe darf am Mittwoch wieder zusammenko­mmen, trotz des Lockdowns. Die Treffen sind systemrele­vant. Vielleicht mehr denn je.

*Die Namen der Teilnehmer der Selbsthilf­egruppe wurden von der Redaktion geändert.

 ?? FOTO: ANDREAS ENDERMANN ?? Klaus Kuhlen war selbst Alkoholike­r. Heute moderiert er Selbsthilf­egruppen in den Räumen des Kreuzbunde­s in Düsseldorf.
FOTO: ANDREAS ENDERMANN Klaus Kuhlen war selbst Alkoholike­r. Heute moderiert er Selbsthilf­egruppen in den Räumen des Kreuzbunde­s in Düsseldorf.

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