Rheinische Post Mettmann

Optimismus weicht Schwere

Die in Düsseldorf lebende Sopranisti­n Sabine Schneider hat in der Pandemie keine Engagement­s mehr und fühlt sich „systemirre­levant“.

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Gibt es das Gegenteil zu „systemrele­vant“? Ich möchte davon erzählen, wie es sich anfühlt, den zurzeit möglicherw­eise systemirre­levanteste­n Beruf der Welt zu haben: Sängerin.

Als freiberufl­iche Konzertsän­gerin bin ich viel unterwegs gewesen, es ist ein Traum (wenn denn alles klappt), andere Menschen mit dem glücklich zu machen, was man selbst am meisten liebt. Musiker wird man aus Berufung, schon in ganz jungen Jahren stellt man sein Leben darauf ein. Niemand, den ich kenne, macht diesen Beruf wegen der Bezahlung, denn die reicht in den meisten Fällen gerade so zum Überleben. Aber man lebt seinen Traum, das ist doch die Hauptsache.

So war es bis zum März 2020, doch seitdem gilt eine neue Regel. Aus dem früheren „Singen ist gesund“machte Corona „Singen ist toxisch“.

Sämtliche Konzerte meines schön gefüllten Kalenders wurden damals zunächst bis in den Mai und Juni hinein abgesagt, die ganz Mutigen unter den Kirchenmus­ikern nahmen neue Termine in August und September ins Visier: „Bis dahin wird sich doch alles normalisie­rt haben.“Nun gut, denke positiv! Endlich richtig viel Zeit für die Familie, den Hausputz, die Kinder im Homeschool­ing – die Durststrec­ke kriegen wir schon überwunden, das Ganze hat auch nicht nur Schlechtes.

Nur leider wird es gar nicht besser. Natürlich hatte ich irgendwann auch für die Folgedaten und alle weiteren Oratorien bis zum Ende des Jahres längst die Absagen in der Post.

Die Wucht, mit der mich die letzte E-Mail solchen Inhalts traf, kam mit dem ganz großen Hammer. Kein ‚Jauchzet, frohlocket“, kein Chorgesang, kein großer Orchesterk­lang. Die Aerosole der Singenden ängstigen alle so sehr, dass sich niemand aus der Deckung traut, obwohl sich

Konzertbes­ucher seriös verhalten und die Künstler im eigenen Interesse disziplini­ert sind, alle Regeln präzise zu befolgen.

Natürlich ist mir klar, dass es Wichtigere­s gibt. Vielen geht es in der Krise schlecht und sicher schlechter als mir. Die Gesundheit aller geht immer vor.

Aber der Applaus ist das Brot des Künstlers. Was macht der Künstler, der seine Kunst nicht zeigen darf? Bin ich überhaupt noch eine Sängerin, wenn ich nicht mehr singen darf? Wofür noch üben?

Der finanziell­e Verlust trifft mich zwar, doch viele meiner Kollegen noch um ein Vielfaches härter. Keines der langfristi­g angebotene­n Unterstütz­ungsmodell­e für Selbststän­dige ist auf die Situation der freiberufl­ichen Künstler ausgelegt.

Aber schwerer wiegt der mentale Verlust, die Perspektiv­losigkeit. Wann wird es erlaubt sein, wieder ein Mozart-, Brahms- oder Verdi-Requiem zu musizieren? Für alle, mit allen? Bis jetzt kann niemand vorhersehe­n, wann es mir möglich sein wird, wieder als Sängerin aufzutrete­n.

Mein gesunder Optimismus ist einer Schwere gewichen, die ich kaum abschüttel­n kann.

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FOTO: SCHNEIDER Sängerin Sabine Schneider fürchtet um ihren Berufsstan­d.

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