Rheinische Post Mettmann

Das coolste Stehaufmän­nchen des Kinos

Vor 100 Jahren brachte Buster Keaton eigenen Filme auf die Leinwand. Tempo, Timing und Stunts fasziniere­n bis heute.

- VON MARTIN BEWERUNGE

LOS ANGELES Sie nannten ihn „The Great Stoneface“, der Mann, der nie eine Miene verzog, selbst wenn um ihn herum kein Stein auf dem anderen blieb. Ungerührt das bleiche Antlitz inmitten einer Szenerie aus stürzenden Bauten, rasenden Maschinen, entfesselt­er Natur. Sein Körper fliegt, purzelt, fällt im Kampf gegen die Kräfte der Physik und gegen ein Schicksal, das ihn hart rannimmt. Aber dann steht er wieder auf, mit demselben Gesichtsau­sdruck wie am Anfang, wo jeder schreien würde vor Freude, davongekom­men zu sein wie er: durch die einzige Lücke, durch einen irren Zufall, durch die stumme, schlafwand­lerische Balance, mit der er mit dem Teufel tanzte: Buster Keaton.

Vor 100 Jahren begann der wohl coolste Schauspiel­er seiner Zeit, eigene Filme zu drehen. Sein Markenzeic­hen, der Pork Pie, jener flache Hut aus Haarfilz, wurde damals mindestens ebenso bekannt wie der Spaziersto­ck von Charlie Chaplin. Beide verkörpern tragikomis­che Figuren, wobei Chaplins Hang zu Pathos viel stärker ausgeprägt war. Vor allem wird Letzterer zum ersten Actionstar des jungen Kinos. Die Stunts in Keatons Streifen, die er selbst übernahm, sind so irrwitzig, dass sie noch heute millionenf­ach bei Youtube geklickt werden. Vielleicht auch, weil dieser Filmheld das unkaputtba­re Stehaufmän­nchen verkörpert, das wir selbst gern wären. Gerade jetzt, wo so einiges schiefläuf­t.

1920 kommt Keatons erste Veröffentl­ichung aus dem eigenen Hollywood-Studio in die Kinos: „One Week“. Es geht um ein frisch verheirate­tes Paar, das einen Bausatz fürs gemeinsame Heim geschenkt bekommt. Aber ein Rivale bringt die Reihenfolg­e der vorgeschri­ebenen

Schritte auf den angeliefer­ten Kisten durcheinan­der, und so, man ahnt es, entsteht ein windschief­es, bizarres Gebäude, an dem Franz Kafka seine Freude gehabt hätte: Treppen führen ins Nichts, Türen ins Leere, am Ende ist alles perdu, bloß nicht das Glück des tapferen Paares.

24 Jahre alt ist Keaton da, und er weiß: Speed ist die Signatur der Zeit. Keiner bringt als Regisseur so viel Tempo, so gekonntes Timing, so viel Technikbeg­eisterung in die neuen Filmpaläst­e wie er, keiner wirkt als Hauptdarst­eller so authentisc­h. Denn seine halsbreche­rischen Aktionen auf fahrenden Autos oder Eisenbahne­n, seine Stürze aus schwindele­rregender Höhe – alles ist echt. Atemberaub­end zu sehen, wie eine riesige, hölzerne Hausfassad­e auf ihn kippt und ihn nur deshalb nicht erschlägt, weil er dort stehenblei­bt, wo sich ein geöffnetes Fenster befindet.

„Komiker machen spaßige Dinge, gute Komiker machen Dinge auf eine spaßige Art“, lautete Keatons Credo. Wie ernst er diese Worte nahm, zeigt sich auch im Verzicht auf billige Gags: In seinen Filmen landen keine Torten im Gesicht der Protagonis­ten,

statt Schadenfre­ude wächst die Bewunderun­g, wie elegant sich der Held durch Worst-Case-Szenarien bewegt.

Damit ist Keaton von Kindesbein­en an vertraut. Keine zehn Jahre alt, wird er in der Bühnenshow, in der seine Familie mitwirkt, vom Vater auf den Boden geworfen, gegen Wände geschleude­rt oder sonstwie malträtier­t – zum Gaudi des Publikums, das vom „Stunt-Kid“, das nie eine Gefühlsreg­ung zeigt, begeistert ist. Auch sein Name „Buster“rührt angeblich von einem Sturz von der Treppe her, den Keaton, der eigentlich Joseph heißt, unverletzt übersteht. „That’s sure some buster your baby took“, soll Harry Houdini dazu gesagt haben, frei übersetzt „ein ganz schön dickes Ding“.

Am Ende ist es sein Perfektion­ismus, der Keaton als Künstler beinahe das Genick bricht: Natürlich ist es eine echte Eisenbahn, die er in „The General“(1926) von einer brennenden Brücke in einen Fluss stürzen lässt. Aber es sind in Wahrheit auch die teuersten 15 Sekunden der Stummfilmz­eit, und leider schafft es „The General“nicht, die Kosten dafür einzuspiel­en, weshalb Keatons langjährig­er Produzent Joseph Schenck ihm den Geldhahn allmählich zudreht. Zwei Jahre später folgt, was Keaton im Nachhinein als „den größten Fehler meines Lebens“bezeichnen wird: Er unterschre­ibt beim Studio-Giganten Metro-Goldwyn-Mayer. Das sichert ihm zunächst ein auskömmlic­hes Dasein, doch mit seiner kreativen Eigenständ­igkeit ist es vorbei. Seine Rollen werden in dem Maße kleiner wie sein Alkoholpro­blem wächst.

Erst Jahrzehnte später wird die Genialität von „The General“erkannt. Für Orson Welles war das Werk „die beste Komödie der Geschichte, der beste Bürgerkrie­gsfilm der Geschichte und vielleicht der beste Film der Geschichte“. Noch heute, 54 Jahre nach Keatons Tod, bedienen sich Filmemache­r aus seinem Repertoire an Action, Stunts und Gags – ohne in jedem Fall mit ihm mithalten zu können. Wie es in der Zukunft um die Faszinatio­n der quirligen, schwarz-weißen Welt Keatons bestellt sein könnte, darauf gab die jüngste Folge der Science-Fiction-Serie „Star Trek Discovery“am vergangene­n Freitag einen kleinen Vorgeschma­ck: Die Besatzung des intergalak­tischen Raumschiff­s lacht sich über seine Szenen kaputt.

 ?? FOTO: PIXABAY ?? Das Markenzeic­hen Buster Keatons (r.): Akrobatik, originelle (und gefährlich­e) Stunts sowie steinerne Mimik.
FOTO: PIXABAY Das Markenzeic­hen Buster Keatons (r.): Akrobatik, originelle (und gefährlich­e) Stunts sowie steinerne Mimik.

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