Das coolste Stehaufmännchen des Kinos
Vor 100 Jahren brachte Buster Keaton eigenen Filme auf die Leinwand. Tempo, Timing und Stunts faszinieren bis heute.
LOS ANGELES Sie nannten ihn „The Great Stoneface“, der Mann, der nie eine Miene verzog, selbst wenn um ihn herum kein Stein auf dem anderen blieb. Ungerührt das bleiche Antlitz inmitten einer Szenerie aus stürzenden Bauten, rasenden Maschinen, entfesselter Natur. Sein Körper fliegt, purzelt, fällt im Kampf gegen die Kräfte der Physik und gegen ein Schicksal, das ihn hart rannimmt. Aber dann steht er wieder auf, mit demselben Gesichtsausdruck wie am Anfang, wo jeder schreien würde vor Freude, davongekommen zu sein wie er: durch die einzige Lücke, durch einen irren Zufall, durch die stumme, schlafwandlerische Balance, mit der er mit dem Teufel tanzte: Buster Keaton.
Vor 100 Jahren begann der wohl coolste Schauspieler seiner Zeit, eigene Filme zu drehen. Sein Markenzeichen, der Pork Pie, jener flache Hut aus Haarfilz, wurde damals mindestens ebenso bekannt wie der Spazierstock von Charlie Chaplin. Beide verkörpern tragikomische Figuren, wobei Chaplins Hang zu Pathos viel stärker ausgeprägt war. Vor allem wird Letzterer zum ersten Actionstar des jungen Kinos. Die Stunts in Keatons Streifen, die er selbst übernahm, sind so irrwitzig, dass sie noch heute millionenfach bei Youtube geklickt werden. Vielleicht auch, weil dieser Filmheld das unkaputtbare Stehaufmännchen verkörpert, das wir selbst gern wären. Gerade jetzt, wo so einiges schiefläuft.
1920 kommt Keatons erste Veröffentlichung aus dem eigenen Hollywood-Studio in die Kinos: „One Week“. Es geht um ein frisch verheiratetes Paar, das einen Bausatz fürs gemeinsame Heim geschenkt bekommt. Aber ein Rivale bringt die Reihenfolge der vorgeschriebenen
Schritte auf den angelieferten Kisten durcheinander, und so, man ahnt es, entsteht ein windschiefes, bizarres Gebäude, an dem Franz Kafka seine Freude gehabt hätte: Treppen führen ins Nichts, Türen ins Leere, am Ende ist alles perdu, bloß nicht das Glück des tapferen Paares.
24 Jahre alt ist Keaton da, und er weiß: Speed ist die Signatur der Zeit. Keiner bringt als Regisseur so viel Tempo, so gekonntes Timing, so viel Technikbegeisterung in die neuen Filmpaläste wie er, keiner wirkt als Hauptdarsteller so authentisch. Denn seine halsbrecherischen Aktionen auf fahrenden Autos oder Eisenbahnen, seine Stürze aus schwindelerregender Höhe – alles ist echt. Atemberaubend zu sehen, wie eine riesige, hölzerne Hausfassade auf ihn kippt und ihn nur deshalb nicht erschlägt, weil er dort stehenbleibt, wo sich ein geöffnetes Fenster befindet.
„Komiker machen spaßige Dinge, gute Komiker machen Dinge auf eine spaßige Art“, lautete Keatons Credo. Wie ernst er diese Worte nahm, zeigt sich auch im Verzicht auf billige Gags: In seinen Filmen landen keine Torten im Gesicht der Protagonisten,
statt Schadenfreude wächst die Bewunderung, wie elegant sich der Held durch Worst-Case-Szenarien bewegt.
Damit ist Keaton von Kindesbeinen an vertraut. Keine zehn Jahre alt, wird er in der Bühnenshow, in der seine Familie mitwirkt, vom Vater auf den Boden geworfen, gegen Wände geschleudert oder sonstwie malträtiert – zum Gaudi des Publikums, das vom „Stunt-Kid“, das nie eine Gefühlsregung zeigt, begeistert ist. Auch sein Name „Buster“rührt angeblich von einem Sturz von der Treppe her, den Keaton, der eigentlich Joseph heißt, unverletzt übersteht. „That’s sure some buster your baby took“, soll Harry Houdini dazu gesagt haben, frei übersetzt „ein ganz schön dickes Ding“.
Am Ende ist es sein Perfektionismus, der Keaton als Künstler beinahe das Genick bricht: Natürlich ist es eine echte Eisenbahn, die er in „The General“(1926) von einer brennenden Brücke in einen Fluss stürzen lässt. Aber es sind in Wahrheit auch die teuersten 15 Sekunden der Stummfilmzeit, und leider schafft es „The General“nicht, die Kosten dafür einzuspielen, weshalb Keatons langjähriger Produzent Joseph Schenck ihm den Geldhahn allmählich zudreht. Zwei Jahre später folgt, was Keaton im Nachhinein als „den größten Fehler meines Lebens“bezeichnen wird: Er unterschreibt beim Studio-Giganten Metro-Goldwyn-Mayer. Das sichert ihm zunächst ein auskömmliches Dasein, doch mit seiner kreativen Eigenständigkeit ist es vorbei. Seine Rollen werden in dem Maße kleiner wie sein Alkoholproblem wächst.
Erst Jahrzehnte später wird die Genialität von „The General“erkannt. Für Orson Welles war das Werk „die beste Komödie der Geschichte, der beste Bürgerkriegsfilm der Geschichte und vielleicht der beste Film der Geschichte“. Noch heute, 54 Jahre nach Keatons Tod, bedienen sich Filmemacher aus seinem Repertoire an Action, Stunts und Gags – ohne in jedem Fall mit ihm mithalten zu können. Wie es in der Zukunft um die Faszination der quirligen, schwarz-weißen Welt Keatons bestellt sein könnte, darauf gab die jüngste Folge der Science-Fiction-Serie „Star Trek Discovery“am vergangenen Freitag einen kleinen Vorgeschmack: Die Besatzung des intergalaktischen Raumschiffs lacht sich über seine Szenen kaputt.