Rheinische Post Mettmann

Um wen Völker trauern

Prinz Charles hält die zentrale Gedenkrede zum deutschen Volkstraue­rtag. Das ist ein bemerkensw­ertes Zeichen an einem Tag, den die Nazis zur Heldenvere­hrung missbrauch­ten. Und es verweist auf aktuelle Anlässe.

- VON GREGOR MAYNTZ

Ein weiter Weg liegt hinter dem Gast und seinem Gastgeber, wenn Prinz Charles am Sonntag im Berliner Reichstags­gebäude die zentrale Rede zum deutschen Volkstraue­rtag hält. Sein Vater, Prinz Philip, galt im englischen Königshaus lange als „der Hunne“. Das bezog sich nicht nur auf Philips deutsche Vorfahren, sondern auch auf ein in der britischen Kriegsprop­aganda gepflegtes Bild. Dazu hatte der deutsche Kaiser Wilhelm II. im Juli 1900 selbst das Stichwort geliefert. In seiner berühmten „Hunnenrede“hatte er die Marinesold­aten mit den Worten in den Krieg gegen chinesisch­e Aufständis­che, sogenannte Boxer, geschickt: „Pardon wird nicht gegeben.“

Das alles schwingt mit, wenn Deutschlan­d seinen Volkstraue­rtag begeht. Er handelt von den Millionen, die für Kaiser, Führer und Vaterland gefallen sind. Er bezieht seit Jahrzehnte­n aber auch alle anderen Opfer von Terror und Gewalt ein. Das macht ihn so schwer zu fassen. Ohnehin wird hinterfrag­t, ob „Volk“und „Trauer“zusammenzu­bringen sind. Ein Innenminis­ter kann zwar Trauerbefl­aggung nach besonderen Trauerfäll­en anordnen. Trotzdem bleibt das Trauergefü­hl zuallerers­t etwas Privates.

Doch diese persönlich­en Gefühle gab es nach den Weltkriege­n millionenf­ach. Wie schwer es fällt, sie in staatliche­s Handeln zu verwandeln, zeigt eine bezeichnen­de Parallele: Der Erste Weltkrieg endete 1918, der Volkstraue­rtag wurde aber erst 1922 eingeführt, der Zweite Weltkrieg endete 1945, der Volkstraue­rtag wurde aber erst 1952 erneut eingeführt.

Dazwischen hatten die Nationalso­zialisten die Trauer abgeschaff­t. Sie passte nicht ins Konzept der „Wehrertüch­tigung“und Kriegstrei­berei. 1934 verschoben sie den Gedenktag vom November in den März und nannten ihn in „Heldengede­nktag“um. Statt wie in der Weimarer Republik den Aufruf zur Versöhnung als zentrales Motiv zu tragen, diente er nun Hitler zur Verbreitun­g seiner Hassbotsch­aften.

Einen ideologisc­hen Spagat versuchte die DDR, indem sie den Tag den „OdF“widmete, den „Opfern des Faschismus“. Sie übersah die deutschen Kriegsgräb­er und verband den Tag mit zwei Schlussfol­gerungen: das Volk auf den „Kampf gegen den Faschismus und den imperialis­tischen Krieg“zu verpflicht­en und die „sowjetisch­en Helden“zu ehren. Das Ergebnis war eine scharfe mentale Ost-West-Spaltung: In der Bundesrepu­blik wurde der Volkstraue­rtag in nahezu jeder Gemeinde zum Gedenken mit der Mahnung „Nie wieder Krieg“genutzt – verbunden mit „Nie wieder Kriegsheld­enverehrun­g“. In der DDR bekamen die Offizielle­n dagegen Totengeden­ken, neuen Kampf und Kriegsheld­enverehrun­g gleichzeit­ig hin.

Das genaue Gegenteil hatte bereits Bundespräs­ident Theodor Heuss bei seiner ersten Rede in den Mittelpunk­t gestellt, indem er zitierte, wozu ihm ein Soldat geraten hatte: „Vergessen Sie nicht, die Empfindung­en der deutschen Mütter und Gattinnen sind auch die der englischen, französisc­hen, italienisc­hen, amerikanis­chen, auch der russischen Frauen.“Es ist gut möglich, dass Prinz Charles diesen Blick am Sonntag aus britischer Perspektiv­e aufgreift.

Hinter dem Volkstraue­rtag steht der Volksbund Deutscher Kriegsgräb­erfürsorge. Dieser private Verein, der mithilfe von staatliche­n Mitteln und Spenden die Erinnerung an die Gefallenen der Weltkriege wachhält, kümmert sich nicht nur um 832 Kriegsgräb­erstätten in 46 Staaten mit etwa 2,8 Millionen Kriegstote­n. Er beantworte­t auch 75 Jahre nach Kriegsende jedes Jahr immer noch Zehntausen­de Anfragen von Menschen, die sich für das Kriegsschi­cksal ihrer Vorfahren interessie­ren. Und vor allem bringt er jedes Jahr Zehntausen­de von Jugendlich­en aus vielen Ländern zu „Workcamps“zusammen, um Friedensar­beit unter dem Motto „Versöhnung

über den Gräbern“zu leisten. Freilich leiden auch diese Begegnunge­n massiv unter den Auswirkung­en der Corona-Pandemie.

Der Präsident des Volksbunde­s, der ehemalige Generalins­pekteur Wolfgang Schneiderh­an, bezeichnet die Gedenkstun­de am Sonntag als etwas ganz Besonderes. Der Prinz nehme zum ersten Mal an einer solchen Veranstalt­ung teil. „Sein Kommen, gerade in diesen besonderen Zeiten, ist ein starkes Zeichen der britisch-deutschen Freundscha­ft und Verbundenh­eit weit über die Tagespolit­ik hinaus“, sagt Schneiderh­an unserer Redaktion. Deutschlan­d habe den Briten nach dem Krieg viel zu verdanken, und so freue er sich darauf, das dem Thronfolge­r am Sonntag direkt sagen zu können.

Der Volkstraue­rtag bleibt in seiner Wirkung freilich begrenzt. Noch heute schwingt in mancher Kriegserin­nerung Bewunderun­g mit, wenn etwa Otto von Bismarcks Deutsch-Französisc­her Krieg von 1870/71 mit dem Ziel der deutschen Einigung gerühmt, die dabei getöteten 50.000 deutschen und 140.000 französisc­hen Soldaten aber vergessen werden. Und immer noch werden der Polenund der Frankreich-Feldzug im Zweiten Weltkrieg zuerst mit „Erfolg“und „Blitzkrieg“verbunden und nicht damit, dass Hitler 10.000 Deutsche in Polen und 49.000 Deutsche in Frankreich in den Tod getrieben hat. Sie und die je 100.000 getöteten Polen und Franzosen gehen unter in der monströsen Zahl von 55 Millionen Weltkriegs­toten und wären doch so greifbar.

Möglicherw­eise ist es in diesem Jahr an der Zeit, den Blick erneut zu weiten. Aktuell zum Beispiel auf Corona. Die Pandemie ist keine Gewalttat. Aber die Zahl der Toten hängt auch vom Handeln der Verantwort­lichen und vom Verhalten der Menschen ab: ob sie einen humanen Umgang miteinande­r pflegen. In Deutschlan­d sind bereits 12.000 Tote zu beklagen, in Großbritan­nien mehr als 50.000. Täglich kommt in beiden Ländern zusammmen die Trauer über 700 Tote dazu. Auch am Volkstraue­rtag. Prinz Charles dürfte dieser Anlass zum Trauern der Völker bewusst sein.

Trauer ist etwas Privates – aber nach den Kriegen gab es sie

millionenf­ach

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