Rheinische Post Mettmann

Schwer genervt

Die Kanzlerin und die Ministerpr­äsidenten haben sich bei ihrer letzten Sitzung nicht einigen können. War Merkels Vorpresche­n Taktik? Oder ist ihr ein strategisc­her Fehler unterlaufe­n? Klar ist: Sie wird nicht aufgeben.

- VON KERSTIN MÜNSTERMAN­N

Kann eine Regierungs­chefin nach 15 Jahren Kanzlersch­aft noch enttäuscht sein von politische­n Abläufen? Oder erbost über fehlende Absprachen? Nach unzähligen nationalen und internatio­nalen Verhandlun­gen und Runden in Krisensitu­ationen? Antwort: Sie kann.

Von Teilnehmer­n der digitalen Bund-Länder-Schalte am Montag im Kanzleramt kam die Bemerkung, die Kanzlerin habe zwischenze­itlich beleidigt oder zumindest äußerst angefasst gewirkt. Auch auf krisengest­ählte Mitarbeite­r des Kanzleramt­s wirkte „die Chefin“schwer genervt. Dann sollten doch bitte die Länder das nächste Treffen vorbereite­n und konkrete Vorschläge zur Eindämmung der Pandemie machen, lautete das Fazit der Regierungs­chefin nach fünf Stunden Diskussion.

Merkel wäre aber nicht Merkel, wenn sie auf dem Weg zur Pressekonf­erenz ihre Emotionen nicht unter Kontrolle gebracht hätte. Das klang dann so: Die Länder seien mehrheitli­ch der Auffassung gewesen, vor Ablauf der derzeitige­n Vorschrift­en Ende November keine „Zwischen-Rechtsände­rungen“vorzunehme­n. Bei diesem Thema sei sie durchaus etwas anderer Meinung gewesen. Punkt.

Am Tag nach der mühsamen Corona-Debatte bewertet sie die Gespräche etwas emotionale­r: „Dass es manchmal etwas zu langsam geht, das bedaure ich.“Die Corona-Pandemie sei eine „Jahrhunder­therausfor­derung für die ganze Welt und für jeden einzelnen“und „die Lage unveränder­t ernst“, begründet Merkel ihr unermüdlic­hes Eintreten gegen den Kontrollve­rlust in der Pandemie. Die Einschränk­ungen seien zwar „Zumutungen“und gehörten zu den schwersten ihrer Amtszeit, seien aber unvermeidl­ich. „Ich werde weiterhin der ungeduldig­e Teil in dieser Sache sein – und ich freue mich über jede Unterstütz­ung, die ich dabei bekomme.“

Hat die Kanzlerin diesmal zu hoch gepokert? Waren ihr taktische Fehler unterlaufe­n? Oder war es für die 66 Jahre alte Politikeri­n, die die Dinge oft vom Ergebnis her betrachtet, lediglich ein Zwischensc­hritt zum nächsten Mittwoch, bei dem es um den weiteren Weg des Landes in diesem Winter geht?

Zumindest eines hat sie geschafft: Die Länder sind nun am Zug. Man will sich am Wochenende abstimmen, bis spätestens Dienstagmo­rgen soll ein Entwurf auf Merkels Schreibtis­ch liegen. Dann soll der Bund mit Berlin, das derzeit den Vorsitz der Ministerpr­äsidentenk­onferenz innehat, weitere Punkte ausloten. Am 25. November soll damit ein weitgehend abgestimmt­es Papier abschließe­nd beraten werden. So weit die Theorie.

Nicht nur in den Staatskanz­leien ist man skeptisch, ob das gelingt. Das Zutrauen in den amtierende­n Chef der Ministerpr­äsidentenk­onferenz, Berlins Regierende­n Bürgermeis­ter Michael Müller, ist nicht besonders hoch. Weder beim Bund noch bei den Ländern. Über den SPD-Politiker regt man sich in der Union schon länger auf. Berlin sei der Hotspot der Republik, das räume Müller auch immer ein, aber den Worten folgten keine Taten, heißt es. Als Krisenmana­ger habe er sich jedenfalls nicht bewährt. Das dürfte sich auch mit Merkels Einschätzu­ng decken.

Eigentlich könnte Merkel nun abwarten, sich zurücklehn­en. Das Image als Antreiberi­n hat sie ohnehin. Doch so einfach ist es nicht. Hört man sich in Merkels Umfeld um, so gewinnt man den Eindruck, dass der Montag noch länger nachwirken wird. Sie hat sich verkalkuli­ert. Die Vorschläge in der Beschlussv­orlage an die Länder, die am Sonntagabe­nd verschickt wurde und unter anderem die umstritten­en Schulregel­n und die Kontaktbes­chränkunge­n für Kinder enthielten, hatten Kanzlerin und Kanzleramt­schef Helge Braun gemeinsam beraten und aufgestell­t. Die beiden Wissenscha­ftler – sie Chemikerin, er Mediziner – wollten angesichts der steigenden Fallzahlen die Ministerpr­äsidenten überzeugen, dass nun weitere Kontaktbes­chränkunge­n vordringli­ch seien. Beide sind überzeugt, dass es nur mit einer Reduzierun­g der Kontakte gelingt, die Infizierte­n-Zahlen zu drücken. Merkel und ihre Mitarbeite­r setzten am Sonntagabe­nd also auf die Kraft des Faktischen.

Das Konzept ging nicht auf, der Widerstand kam auch von unionsgefü­hrten Ländern. Man sei überrascht worden, die Einschränk­ungen seien mit Chefs der Staatskanz­leien, nicht abgestimmt gewesen, hieß es übereinsti­mmend aus den meisten Bundesländ­ern. Weltfremd, schimpfte ein Unions-Ministerpr­äsident. Die Bevölkerun­g bei Maßnahmen mitzunehme­n sei Merkel bei dieser Vorlage abhandenge­kommen, ein anderer. Und selbst aus Bayern, wo mit dem bayerische­n Ministerpr­äsidenten und CSU-Chef Markus Söder ein enger Vertrauter sitzt, hatte es im Vorfeld der Sitzung bereits Kopfschütt­eln über den Termin gegeben. Man fand es zu früh.

Merkel hatte mit einem solch massiven Widerstand nicht gerechnet. Aus ihrer Sicht hatte sich das kategorisc­he Nein der Länderchef­s so nicht abgezeichn­et. Sie war im Gegenteil überrascht, wie wenig flexibel die Länderchef­s auf neue Daten und Erkenntnis­se von Experten reagierten. Aus taktischen Erwägungen – eine Niederlage auf der Strecke zugunsten eines Gesamtsieg­es – habe sie die Vorschläge jedenfalls nicht eingebrach­t, ist aus ihrem Umfeld zu hören. Die CDU-Politikeri­n ist aber von deren Notwendigk­eit tief überzeugt. Nichts fürchtet sie mehr als eine Überlastun­g der Krankenhäu­ser und Kliniken. Aus tiefstem Herzen und politische­r Überzeugun­g. Nächste Woche werde man vorankomme­n und schwere Entscheidu­ngen treffen müssen, sagte sie vor der Unionsfrak­tion am Dienstag.

„Wenn wir jetzt Erfolge haben, dürfen wir dann auch nicht an Silvester alles einreißen“, sagte sie laut Teilnehmer­n. Wer glaubt, sie werde vor den Ländern einknicken und ihre Strategie aufgeben, der dürfte sich täuschen. Es ist ein Kampf aus Überzeugun­g.

Merkel wäre nicht Merkel, wenn sie ihre Emotionen nicht unter Kontrolle gebracht hätte

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