Straße gegen Parlament
Bundestag und Bundesrat ändern das Infektionsschutzgesetz. Der grelle Protest von draußen schwappt bis in den Plenarsaal.
BERLIN Sie sind früh auf den Beinen. Abgeordnete gehen schon vor acht ins Reichstagsgebäude, um sich nicht blockieren zu lassen, Demonstranten haben sich noch früher aufgemacht, um ihren Protest gegen die Änderung des Infektionsschutzgesetzes auf die Straßen um das Reichstagsgebäude zu bringen. Die Stationen im Gesetzgebungsverfahren: mittags Bundestag, nachmittags Bundesrat, abends Bundespräsident. Dazwischen immer wieder Proteste und Polizeieinsätze.
Teilnehmer kommen aus dem Rheinland, dem Emsland und Westfalen, aus der Oberpfalz, dem Schwarzwald und der Lausitz. Und sie parken ihre Autos Kilometer vor dem Reichstagsgebäude an der Straße des 17. Juni. Viele gut gekleidet, manche mit Jute-Umhängen voller Sticker und bunter Fahnen, als kämen sie von einer Anti-Atomkraft-Demo aus dem Wendland. Aber das hier ist eine Anti-Corona-, Anti-Impfen-, Anti-System-Demo.
Kein Mundschutz, kein Abstand. Wieso auch? Corona gibt es nach ihrer Lesart gar nicht. Um 9.50 Uhr tragen etwa 90 Prozent der Demonstranten, die am Brandenburger Tor aufmarschiert sind, keine Masken, dafür Sticker mit der Aufschrift „Umarmbar“. Eine Polizistin versucht, die Maskenpflicht bei einem Mann durchzusetzen. Er wehrt sich. Mit Kollegen wird er zur Feststellung seiner Personalien weggebracht.
Die Ansage der 2000 Beamten ist eindeutig: Auflagen einhalten, oder wir schreiten ein. So ist die Lage, als Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble die Sitzung eröffnet. Die AfD will das Thema von der Tagesordnung haben. Es habe nicht genug Zeit zur Beratung gegeben. Sofort fällt das böse Wort, die Anspielung auf 1933: Die Regierung plane eine „Ermächtigung“wie seit Jahrzehnten nicht. Damit versucht AfD-Fraktionsgeschäftsführer Bernd Baumann, Pingpong zwischen Straße und Plenarsaal zu spielen.
Redner anderer Fraktionen lehnen das Ansinnen ab. „Sie haben keine Alternativen, Sie wollen nur Krawall“, sagt Marco Buschmann von der FDP. Das Gesetz sei zwar schlecht, aber es führe nicht zur Diktatur.
Im Ausschuss sei von der AfD nichts zu hören gewesen.
Die Debatte beginnt. Draußen fahren die Wasserwerfer vor. Nach mehrmaligen vergeblichen Aufrufen, sich an Maskenpflicht und Abstand zu halten, wird die Versammlung am Brandenburger Tor beendet. Aber die Teilnehmer bleiben. Drinnen greift AfD-Fraktionschef Alexander Gauland einen Vorfall vom Vormittag auf, bei dem der AfD-Abgeordnete Marco Hilse von mehreren Polizisten zu Boden gerissen wurde, obwohl er rief, er sei Abgeordneter. „Wo sind wir eigentlich angekommen in diesem Land?“, ruft Gauland in den Plenarsaal. Hilse wollte ohne Maske durch die Absperrung, die Polizei spricht von
Bundesgesundheitsminister
Widerstand. Da wird noch einiges aufzuklären sein. Jedenfalls nimmt Gauland das alles zum Anlass, die AfD die „einzige demokratische Fraktion“im Bundestag zu nennen.
Draußen vergleicht eine Rednerin die Regierung mit dem Hitler-Regime. In Rufen wird Gesundheitsminister Jens Spahn mit dem „Abholen“gedroht. Ein Demonstrant läuft wie Jesus mit einem Kreuz durch die Menge. Viele Esoteriker haben sich unter die Teilnehmer gemischt, auch Satanisten verbreiten ihre Gedanken. „Trump forever“ist auf einem Transparent zu lesen, ein anderes empfiehlt mehr Liebe.
Drinnen redet FDP-Chef Christian Lindner, moniert die Einführung von Hausarrest als mögliche Maßnahme und beklagt das Vorgehen der Koalition. Es habe nicht einmal ein Gesprächsangebot an die Opposition gegeben. Wie zur Bestätigung setzt die Polizei draußen erstmals Wasserwerfer ein. Allerdings nicht mit vollem Druck: „Sprühnebel“lautet die Einstellung. Die Demonstranten holen Schirme heraus.
Für die Linke attackiert Jan Korte in der Debatte die Behauptung von der Corona-Diktatur. Das sei eine Verhöhnung aller Opfer von Diktaturen. Doch für die Linke bleibt auch das Vorgehen der Koalition kritisch.
Sie habe „den Sommer verpennt“.
Um Transparenz bemüht sich die Polizei draußen und gibt über Twitter zu Protokoll, dass Beamte mit Steinen, Flaschen und Reizgas angegriffen würden. Die Polizisten tun sich schwer, robust vorzugehen. Manche Demonstranten haben ihre kleinen Kinder mitgebracht.
Im Plenarsaal erzählen sich die Abgeordneten, dass die AfD offensichtlich Aktivisten eingeschleust hat, die einzelne Politiker mit dem Handy verfolgen und auch in Abgeordnetenbüros einzudringen versuchen. Dabei hat die Polizei alle Zugänge massiv geschützt. Doch drinnen ist das Personal des Bundestags gefragt, und das kontrolliert vor allem Journalisten scharf, weniger intensiv Abgeordnete, ihre Mitarbeiter und Gäste. Die Abgeordneten sind empört über die Versuche, ihre freie Entscheidung auch von innen unter Druck zu setzen.
Jens Spahn kommt nur bis zum Wort „Jahrhundertereignis“im ersten Satz, dann muss Schäuble mit Ordnungsrufen drohen. Die AfD hat Transparente auf die freien Plätze gelegt. Eine Provokation, ein Regelverstoß. Eine Saaldienerin entfernt nach einer Minute das letzte, die anderen haben die Provokateure selbst weggeräumt. Spahn wird energisch: „Ich gebe Ihnen mein Wort: Es wird in dieser Pandemie keine Impfpflicht geben, hören Sie auf, anderes zu behaupten!“Das soll auch die Botschaft für die draußen sein.
60 Minuten Debatte sind geplant, nach zwei Stunden endet die Aussprache. Die Änderungsanträge von FDP und Grünen finden keine Mehrheit, nach knapp drei Stunden dann die erste Schlussabstimmung: Union, SPD und Grüne stimmen zu, müssen das in einer namentlichen Abstimmung noch einmal belegen.
Bis das 415:236-Ergebnis vorliegt, dauert es, und so hat der Bundesrat inzwischen seine Sondersitzung begonnen. Hessens Regierungschef Volker Bouffier (CDU) redet als Erster zu dem Gesetz, das noch gar nicht vorliegt. Und er spricht davon, dass nicht dieses Gesetz die Pandemie bekämpfen könne, sondern nur die Einsicht der Bevölkerung. Dass nach Umfragen die Akzeptanz gerade abnehme, müsse ein „Weckruf“sein. Auch auf den Straßen haben die Rufe noch lange nicht aufgehört.
„Ich gebe Ihnen mein Wort: Es wird keine Impfpflicht geben“
Jens Spahn (CDU)