Rheinische Post Mettmann

An den Rand dessen, was rechtlich geht

Der Bonner Arbeitsrec­htler Gregor Thüsing fordert, dass Nutzer der Corona-Warn-App auch ihre eigene Infektion melden müssen – bisher gebe es zu viele passive Anwender. Wer gewarnt werden wolle, der solle auch sein Risikoprof­il freigeben.

- VON GREGOR THÜSING

Recht lebt von gesellscha­ftlicher Akzeptanz. Nie ist das deutlicher geworden als in den jüngsten Wochen der Corona-Pandemie, als Freiheitsr­echte eingeschrä­nkt werden mussten, um zum Schutz von Gesundheit und Leben beizutrage­n. Gesellscha­ftliche Akzeptanz aber geht verloren, wo Regeln nicht begründet oder absolut gesetzt werden, auch wenn sie nicht absolut sind. Sie geht verloren, wo sich der Blick auf ein Interesse verengt und alles andere beiseitege­schoben wird. Das gilt auch für den Datenschut­z. Die gute Sache, der er dient, rechtferti­gt nicht den Eifer des Zeloten.

Die Datenschut­z-App ist nur auf freiwillig­er Basis eingeführt worden, weil man sie als obligatori­sches Instrument für unverhältn­ismäßig hielt. Viele – und auch ich – waren anderer Meinung. „Wer ein Leben rettet, der rettet die Welt“, heißt es übereinsti­mmend in Koran und

Talmud. Auch der, der den Wert des Lebens nicht so absolut setzt, wer es abwägen will gegen das Recht auf informatio­nelle Selbstbest­immung, der wird eben die Besonderhe­it der Lage in einer Pandemie berücksich­tigen müssen. Der wird das endgültige Erlöschen der Existenz vielleicht auch nur weniger, das Bedürfnis nach Sicherheit von sehr vielen mehr und wohl auch die verhaltens­steuernde Wirkung solcher Überwachun­g bei einigen in die Abwägung einbeziehe­n müssen.

Die ganz große Diskussion lohnt nicht mehr – die Argumente sind ausgetausc­ht. Aber der Kollateral­schaden für den Datenschut­z kann erheblich sein. Die „Bild“-Zeitung zitiert die Bundeskanz­lerin, die App bringe so wenig, weil „uns immer der Datenschut­z dazwischen­kommt“. Für emotionale Gefühlsaus­brüche oder unangemess­ene Polemik ist Angela Merkel nicht bekannt. So wie sie werden aber viele in Deutschlan­d denken. Der Leiter des Frankfurte­r Gesundheit­samts,

René Gottschalk, stellte entnervt fest: „Bei der Corona-App siegt der Datenschut­z über die Gesundheit.“Nun kann man immer anderer Meinung sein als dieser Mediziner. Aber hier redet nicht irgendwer.

Wir sind aktuell bei etwa 22 Millionen Downloads. Das müssen mehr werden. Ihre Funktion erfüllt

Gregor Thüsing ist Arbeitsrec­htler an der Universitä­t Bonn. die App nur bei flächendec­kender Verbreitun­g. Und wir haben zu viele passive Nutzer: Man lässt sich warnen, aber zu wenige der Infizierte­n melden auch ihre Infektion. Hier muss nachgesteu­ert werden. Warum keine automatisc­he Koppelung: Wer gewarnt werden will, der muss auch sein Risikoprof­il freigeben. Und nahezu 60 Prozent der Nutzer würden gerne wissen, wo der Risikokont­akt stattgefun­den hat. Das würde helfen einzuschät­zen, was künftig die Art von Begegnunge­n ist, die man unterlasse­n sollte. Datenschut­zrechtlich sicherlich herausford­ernd, aber tatsächlic­h undenkbar, wenn dann auch die Mehrheit einwillige­n würde? Oder, niedrigsch­welliger, aber doch ganz praktisch: Bestehen immer noch Anwendungs­hinderniss­e für Handys älterer Generation­en, die durch datenschut­zrechtlich­e Sicherunge­n verursacht werden, auf die man als Betroffene­r eben auch freiwillig verzichten mag? Kann man eine einfachere Benutzerob­erfläche schaffen, die mit weniger Klicks mehr Informatio­nen generiert? Wie können noch mehr Labore einbezogen werden und der Meldeproze­ss effektivie­rt werden? Die App ist eine beeindruck­ende Entwicklun­g. Aber was gut ist, das kann noch besser werden.

Nehmen wir Datenschut­z also ernst. Schaffen wir eine Kultur des Datenschut­zes. Sensibilis­ieren wir vor allem die, die bislang noch dem Datennudis­mus frönen und ihre Daten insbesonde­re im Internet beliebig an private Anbieter preisgeben. Aber vermeiden wir es, Angst zu verbreiten, Verunsiche­rung zu stiften und Kopfschütt­eln zu provoziere­n.

Machen wir deutlich, wie wichtig es ist, dass die Corona-Warn-App funktionie­rt, und gehen damit an den Rand dessen, was rechtlich geht, soweit es dient, dieses Instrument wirksamer werden zu lassen. Lassen wir gemeinsam überlegen, wie diese App mehr Wirkung in der Pandemiebe­kämpfung entfalten kann. Alle sollten dabei helfen. Das dient wahrlich einer guten Sache.

 ?? FOTO: FELIX CRULL ??
FOTO: FELIX CRULL

Newspapers in German

Newspapers from Germany