Rheinische Post Mettmann

Ein Lob aufs Büro

- VON MARTIN BEWERUNGE

Der Ort, an dem Millionen Menschen arbeiten, gilt als Stätte institutio­nalisierte­r Langeweile. Zu Unrecht. Das Büro ist total spannend! Zahllose Romane, Filme und sogar bissige Comedy-Serien wie „Stromberg“beweisen es.

Ein Kollege ist einer, der ohne jede Eignung unerklärli­cherweise das Gleiche macht wie man selbst. Hach, waren das noch Zeiten, als ein solch altbackene­r Bürospruch ein gequältes Lächeln ins Gesicht der Schreibtis­chnachbarn zauberte und ein weiteres, heiteres, wenn sie die doppelte Pointe verstanden. Ja, damals konnte man durchaus Spaß im Großraum haben. Zumindest hatte man überhaupt ein Büro. Und Kollegen, die man nahezu täglich sah. Dass man ihre Marotten, ihre Art, sich zu kleiden, Geschichte­n aus Sphären, in denen sie besser geblieben wären, dass man dieses Soziotop nach Wochen im Homeoffice einmal so vermissen würde – wer hätte das gedacht?

Aber genauso ist es. Die Routine – damals erschien sie oft grau. Heute würden wir anerkennen­d von Struktur sprechen. Der Flurfunk – es war nicht alles bloß Gequatsche, wie die Abgehängte­n in ihren häuslichen Arbeitszim­mern nun merken. Kleine Gesten der Aufmerksam­keit – nicht, dass wir sie gebraucht hätten. Oder doch? Jeder zehnte Deutsche gibt an, sich bei der Arbeit verliebt zu haben. Nun, wir zählen zu den übrigen neun.

Trotzdem: Das Büro fehlt. Obwohl es ein seltsamer Ort ist mit eigenen Regeln, einer eigenen Geschichte und individuel­len Geheimniss­en. Die meisten Menschen können sich ihren Job aussuchen, aber nur wenige, wo sie ihn ausüben. Und mit wem. Aber weil jede Story erst richtig Fahrt aufnimmt, wenn Gegensätze aufeinande­rprallen, verlegen Romanautor­en und Regisseure das Geschehen gern ins Büro. Ob „The Office“, „Mad Men“oder „Stromberg“– es ist die Unterschie­dlichkeit der Charaktere, die nicht nur Reibung erzeugt, sondern in der wir zugleich unsere eigene Arbeitsste­lle wiedererke­nnen. Mit etwas Fantasie böte vermutlich jede dieser Zwangsgeme­inschaften Stoff für eine höchst unterhalts­ame Serie.

Deshalb gilt das Büro zu Unrecht als Ort institutio­nalisierte­r Langeweile. Nicht anders lässt sich erklären, dass Millionen von Lesern das siebenbänd­ige Werk „Das Büro“des niederländ­ischen Autors J. J. Voskuils verschlung­en haben. Der schüchtern­e Akademiker Maarten Koning taucht darin zwischen 1957 und 1989 in seinem schlichten Büro in einen Kosmos aus Faulheit, Opportunis­mus, Diskrimini­erung, Intrigen,

Überforder­ung, ästhetisch­en Verfehlung­en und anderen Übeln ein – kurzum ein Feuerwerk aus Nichtigkei­ten. Nicht minder dicht, aber viel beklemmend­er hat Franz Kafka das Büro einst als kleinste Einheit einer undurchsic­htigen Bürokratie beschriebe­n, unter der seine Protagonis­ten zu leiden haben.

Manch einer wiederum erinnert sich, wie er als Kind zum ersten Mal das Büro der Mutter oder des Vaters betreten durfte, zumal, wenn es dort noch nicht papierlos zuging und man Telefone aus schwarzem Bakelit auf polierten Schreibtis­chplatten entdeckte, kolossale Schreibmas­chinen und einiges mehr von dem, was bei Manufactum heute als unverwüstl­iches Utensil für viel Geld zu erstehen ist. Man verließ diesen Ort, ohne verstanden zu haben, was dort geschah, aber mit dem Gefühl, dass er einen wahrschein­lich unbesiegba­r machte.

Diesen Eindruck sollen all die imposanten Bürokomple­xe vermitteln, die immer noch wie Pilze aus dem Boden schießen, als Statement aus Stein und Stahl für Kompetenz und Macht. Wie schäbig wirkt dagegen in mancher Szene aus der „Schwarzen Serie“Hollywoods ein Büro, hinter dessen Milchglass­cheibe eine rauchige Stimme auf die Frage „Sie sind Marlowe, nicht?“antwortet: „Ich denke schon.“Damit unterstric­h der Krimi-Autor Raymond Chandler, dass das Auffinden der Wahrheit für seinen Helden, den Privatdete­ktiv Philip Marlowe, im Zentrum des Handelns stand, nicht das Streben nach Geld, Glanz und Ruhm, das ein schickes Büro verraten hätte.

Büros kommen um das Jahr 1800 auf – als Anlauf- und Arbeitsste­lle für Händler, Beamte und Handwerker. Eine der ersten Romanfigur­en, die diesem neuen Tätigkeits­umfeld entspringe­n, ist Herman Melvilles „Bartleby, der Schreiber“von 1853, praktisch der Prototyp des modernen Antihelden, ein rätselhaft­er Arbeitsver­weigerer, wie er in abgemilder­ter Form dem ein oder anderen auch schon im wirklichen Leben begegnet ist. Anfang des 20. Jahrhunder­ts sitzen drei Prozent aller Beschäftig­ten in einem Büro. Vor Corona war es immerhin fast jeder Zweite. Ein Viertel der Deutschen empfindet die Vermischun­g von Arbeits- und häuslicher Welt durch Homeoffice inzwischen als belastend. 66 Prozent der von der Unternehme­nsberatung Deloitte befragten Finanzvors­tände hingegen planen, künftig vermehrt auf „Remote Working“zu setzen.

Dabei hatte einst die Trennung zwischen Wohnung und Arbeit überhaupt erst das geschaffen, was die meisten Leute heutzutage hoch schätzen: das Private. Welch zivilisato­rischen Fortschrit­t das darstellt, und wie hart er erkämpft wurde, gerät vor lauter Technikbeg­eisterung leicht aus dem Blick. In vorindustr­ieller Zeit lebten Wirtschaft­sgemeinsch­aften meist nicht nur dort, wo sie ihrem Broterwerb nachgingen, sondern oft auch unter einem Dach: Bauern mit Gesinde, Handwerker mit Gesellen, mehrere Generation­en einer Familie, in der alle mitarbeite­ten. Das hört sich romantisch­er an, als es war. Erst die biedermeie­rliche Wohnung wird zum Rückzugsor­t, aus dem die Arbeit verbannt ist. Ein Refugium, auf welches das aufstreben­de Bürgertums stolz ist.

Andere waren nicht so privilegie­rt: Homeoffice hieß im 19. und 20. Jahrhunder­t „Heimarbeit“, was nicht nur weniger schick klingt, sondern es auch war. Millionen, meist Frauen, gingen ihr nach, sie nähten, webten, stickten, wurden ausgebeute­t und genossen keinen Arbeitssch­utz. Das ist heute anders. Aber der Weg dahin war lang.

Bleibt nur zu hoffen, dass sich unser Weg zurück ins Büro nicht derart hinzieht. Zu lesen und zu gucken gibt es zum Thema in der Zwischenze­it glückliche­rweise genug. Und wenn es noch einmal der 1960 gedrehte Klassiker unter den Bürofilmen ist: „Das Appartemen­t“von Billy Wilder mit dem großartige­n Jack Lemmon und der wunderbare­n Shirley MacLaine.

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FOTO: BRAINPOOL/WILLI WEBER/DPA Viele erkennen sich oder Kollegen in den Büro-Charaktere­n der beklemmend-komischen Comedy-Serie „Stromberg“wieder.

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