„Ich bin in beiden Ländern zuhause“
Die Kulturwissenschaftlerin spricht über ihre Arbeit, den Japan-Tag und die japanische Community in der Stadt.
DÜSSELDORF Michiko Mae ist Kulturund Literaturwissenschaftlerin und arbeitet vor allem über Kultur- und Genderfragen. Bis 2016 lehrte sie am Institut für Modernes Japan der Heinrich-Heine-Universität.
Frau Mae, eigentlich sind Sie seit vier Jahren emeritiert, also im Ruhestand – aber wir treffen uns in der Uni. Wie kommt das?
MICHIKO MAE Für mich ist wie für viele andere Wissenschaftler die Arbeit eigentlich nie beendet – und außerdem auch nicht wirklich Arbeit, sondern Leidenschaft. Ich forsche also weiter, halte Vorträge und betreue Doktorandinnen. Eigentlich läuft mein Leben bis auf die regulären Lehrveranstaltungen genauso weiter wie vor der Emeritierung. Ich bin weiterhin hier am Institut integriert und beteilige mich an Veranstaltungen. Meine Arbeitsfelder liegen mir sehr am Herzen und ich bin froh, weitermachen zu können.
Sie sind Kulturwissenschaftlerin und Expertin für das moderne Japan und Genderforscherin. Auf den ersten Blick liegt das recht weit auseinander – wie verbinden Sie es?
MAE Beide Faktoren – Kultur und Geschlechterordnung – waren für die Bildung einer modernen japanischen Nation grundlegend. Daher sind beide Bereiche, die nur auf den ersten Blick weit voneinander entfernt erscheinen, für mich sehr wichtig. Ich beschäftige mich seit Jahren mit dem japanischen Modernisierungsprozess, aber auch mit der japanischen Gegenwartskultur. Die kulturelle Identitätsbildung ist für den Modernisierungsprozess ebenso entscheidend wie eine neue Geschlechterordnung, die Verbindung der beiden Disziplinen ist also sehr naheliegend. Besonders steht die Frauenbewegung in meinem Fokus, die zur gesellschaftlichen Entwicklung in Japan viel beigetragen hat.
Wenn man hier Frauenbewegung hört, denkt man an Suffragetten, vielleicht noch an die 68er. Was können Sie uns über die Bewegung in Japan erzählen?
MAE Es ist vielleicht in Europa nicht so bekannt, aber in Japan hat sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts Erstaunliches entwickelt, teilweise auch analog zur europäischen Frauenbewegung. Anfang der 1910er Jahre gründete sich die Seitô-Gruppe und in den 1920er Jahren kämpften japanische Frauenrechtlerinnen um politische Beteiligungsrechte, aber erst seit 1945 gibt es das Frauen-Wahlrecht. Trotzdem wurden sie lange nicht als gleiche Partnerinnen betrachtet, auch in der linken Studentenbewegung nicht. In den 1970er Jahren entstand die neue Frauenbewegung. Daraus hat sich dann ein ganz eigener Aktivismus entwickelt, mit vielen sozial engagierten und gut vernetzten Frauen. Aus dem jahrelangen Kampf vieler Aktivistinnen, Frauengruppen und -organisationen und auch aus dem großen Engagement vieler Wissenschaftlerinnen und Politikerinnen ist das wegweisende Partizipationsgesetz hervorgegangen, das 1999 in Kraft getreten ist als Rahmengesetz für eine Gesellschaft mit gleicher Partizipation von Männern und Frauen. Aber es ist noch viel zu tun.
Inwiefern?
MAE Immer noch haben die japanischen Frauen nur wenig politische Macht. Und auch in Führungspositionen in der Wirtschaft sind zu wenige Frauen vertreten. Das liegt auch daran, dass in Japan sehr lange gearbeitet wird – was mit der Familienarbeit schwierig zu vereinbaren ist. Es würde allen zugute kommen, wenn eine Balance zwischen Berufs- und Privatleben sowie sozialem Engagement hergestellt werden könnte – für Männer und für Frauen.
Sie sind in Japan geboren und haben dort Germanistik studiert. Woher kam die Faszination für die deutsche Literatur und Kultur?
MAE Ich habe schon als Kind viel gelesen
und bin dann auf die europäische Weltliteratur und deutsche Autoren gestoßen. Und Deutschland hat ja historisch gesehen einen großen Einfluss auf Japan. Mir war früh klar, dass mich das sehr interessiert. Nach dem Studium bin ich dann für die Promotion nach Deutschland gekommen – und geblieben.
Sie leben seit vielen Jahren in Deutschland, haben aber noch die japanische Staatsbürgerschaft. Wo sind Sie zuhause?
MAE In beiden Ländern. Das mit der Staatsbürgerschaft liegt daran, dass weder Japan noch Deutschland die Doppelstaatsbürgerschaft erlauben. Aber beide Länder sind sich gar nicht so unähnlich, wie es scheint, nicht zuletzt historisch bedingt, aber auch durch Globalisierung und Internationalisierung. So kann man sich heute in großen Städten wie Tokyo, Osaka, Berlin oder auch Düsseldorf frei bewegen, ohne die Landessprache zu sprechen – auf dem Land ist es damit schwieriger. In Japan finde ich als Kulturwissenschaftlerin vor allem den Unterschied zwischen hochmodernen Megacities wie Tokyo und eher traditionellen Städten wie Kyoto spannend, da herrscht auch eine ganz andere, beruhigende Atmosphäre. Die kann ich hier in Düsseldorf zum Beispiel im japanischen Tempel gut nachempfinden.
1993 wurden Sie als Professorin ans Institut für modernes Japan der Heine-Uni berufen – damit war klar: Sie bleiben in Deutschland. Eine gute Entscheidung?
MAE Ja. Ich habe mich darüber von
Anfang an sehr gefreut, an die HHU berufen worden zu sein. Düsseldorf ist für mich der optimale Ort – zum Leben wie zum Arbeiten. Es ist die japanischste Stadt Deutschlands, es gibt hier eine große Diaspora, die japanische Kultur und Gesellschaft sind sehr präsent. Gleichzeitig empfinde ich die japanische Community aber auch als sehr gut in die Stadtgesellschaft integriert – was auch an der offenen Art der Menschen und an der Atmosphäre in Düsseldorf liegt. Es ist etwas Besonderes, beide Kulturen erleben zu können: Den Tempel, den japanischen Garten, die vielen japanischen Geschäfte und Restaurants – wo sonst gibt es eine solche Verbindung zwischen Deutschland und Japan?
Am Japan-Tag wird das besonders gefeiert. Was halten Sie von dieser Veranstaltung?
MAE Für die japanische Community ist das eine schöne Gelegenheit, ihre Kultur zu präsentieren. Der kulturelle Austausch an den Info-Ständen und bei den Mitmachaktionen ist dabei besonders wichtig. Ich habe auch nichts gegen die Cosplayer – da steckt viel Leidenschaft dahinter – und die vielen jungen Leute kennen sich sehr gut aus mit der japanischen Populärkultur. Aber auch dadurch ist die Stadt am Japan-Tag zu voll. Die Veranstaltung wird immer mehr kommerzialisiert, das finde ich schade. Sie krankt gewissermaßen an ihrer Popularität. Für mich sollte das gegenseitige Kennenlernen im Vordergrund stehen, zum Beispiel bei kleinen Gesprächskreisen für deutsche und japanische Bürger. Aber insgesamt ist der Japan-Tag ein gutes Beispiel für ein transkulturelles Phänomen.
Wie meinen Sie das?
MAE Man darf eine Kultur nicht als ein in sich abgeschlossenes System begreifen; jede Kultur ist offen und stetig im Wandel und erfindet sich durch den globalisierten Austausch immer wieder neu. Auf dem Japan-Tag passiert das gewissermaßen im Kleinen: Man lernt einander kennen, tauscht sich aus, tritt in eine Beziehung, lernt voneinander. Dazu möchte ich auch mit meiner Forschung beitragen. Außerdem möchte ich in Zukunft mehr praktische Kulturvermittlungsarbeit leisten als bisher, gerne auch ehrenamtlich. Interkulturelle Kompetenz ist für mich eine der wichtigsten Fähigkeiten in unserer globalisierten und digitalisierten Welt.