Rheinische Post Mettmann

Verschluss­sache

Nach einem Schulausfl­ug in die Kunstakade­mie wollte die Schermbeck­erin Johanna Flammer Künstlerin werden. Gerade ist ihre erste Museumsaus­stellung zu Ende gegangen – ohne einen Besucher.

- VON HENNING RASCHE

An einem dieser Tage sitzt Johanna Flammer in ihrem Atelier, ein paar Junkies vor der Tür, und träumt von Gladbeck. Hinter ihr, im Regal mit Büchern und Katalogen, sind angebroche­ne Weinflasch­en Zeugen einer Zeit, die vergangen scheint. Als sie eine Flasche öffnete, wenn jemand vorbeikam, und es etwas zu feiern gab.

Das Atelier befindet sich in Düsseldorf-Oberbilk, unweit des Hauptbahnh­ofs. Wenn Flammer aus ihrem Atelier tritt, setzt sich auf der Treppe gelegentli­ch jemand eine Spritze, sagt sie. Flammer, 42, klagt nicht. Hier kann sie die Miete bezahlen.

Gladbeck ist von Oberbilk 54,9 Kilometer entfernt, berechnet Google. Die Stadt im Ruhrgebiet gilt nicht als Sehnsuchts­ort. Wer sie nicht von der Geiselnahm­e 1988 kennt, der kommt an ihr auf der Durchreise vorbei, wenn er von der A 2 über die B 224 auf die A 52 Richtung Marl wechselt. Dabei liegt in Gladbeck ein Kunstschat­z verborgen.

An dem Ort, den niemand betreten darf, warten an einem Montagmorg­en Kasia Lorenc und Gerd Weggel. Sie stehen in einem großen, dunklen Raum. An der Wand leuchtende Gemälde, davor leuchtende Skulpturen. Es sieht aus, als bewegten sich Figuren und Bilder aufeinande­r zu, als hätten sie in der Einsamkeit des Lockdowns ein Eigenleben entwickelt.

Weggel und Lorenc haben den Durchreise­ort Gladbeck zu einem Zentrum zeitgenöss­ischer Kunst geformt. Er ist künstleris­cher Leiter der Neuen Galerie Gladbeck, sie kuratorisc­he Assistenti­n. Während die Kunstbanau­sen über Geiseldram­en und Autobahnen fabulieren, haben Künstler seit ein paar Jahren in der Neuen Galerie einen angesagten Ausstellun­gsraum gefunden. Candida Höfer, Pia Fries und Cornelius Völker, zum Beispiel.

Die leuchtende­n Gemälde stammen aus Oberbilk, aus der Reihe „Heimatblau“von Johanna Flammer. In Gladbeck kombiniert­en sie Flammers Kunst mit Skulpturen von Paul Schwer. „Morphing“haben sie das genannt. Röhren und Wurzeln verbiegen sich, während man daraufscha­ut, und ergeben im Kopf etwas gänzlich anderes als zuvor.

In der Neuen Galerie Gladbeck fand in den vergangene­n Monaten seit November die erste Museumsaus­stellung Flammers statt. Vor Kurzem ging sie zu Ende, und es hätte es eine Finissage geben müssen, man hätte mal wieder eine Flasche öffnen können. Hätte, können, müssen.

Johanna Flammers erste Museumsaus­stellung hat, abgesehen von ihrer Familie, den Leuten von der Galerie und Reportern, kein Mensch gesehen. Besucherza­hl: null.

Was wem wichtig erscheint, ist auch nach einem Jahr Pandemie verblüffen­d. Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder erklärte die Frisur zum Gegenstand der Menschenwü­rde. Über die Kunst ist ein solcher Satz Söders nicht überliefer­t.

Johanna Flammer betreibt keinen Friseursal­on, sie kann keinen entgangene­n Umsatz melden. Flammer betreibt ein kleines Atelier, von dem das Wirtschaft­ssystem eher keine Notiz nimmt. Eine Ausstellun­g, die kein Mensch gesehen hat, steht in keiner Statistik.

Anderthalb Jahre hat sich Flammer auf die Ausstellun­g vorbereite­t, aber eigentlich hat sie das ihr ganzes Leben lang getan. Beate Boelter weiß das. Sie war Flammers Kunstlehre­rin an der Gesamtschu­le Schermbeck. 1998 hat sie dort als erste ihr Abitur gemacht, Kunst im vierten Fach.

Sie nennt sich Beamtin unter den Künstlern: geordnet, zuverlässi­g, vielseitig

einsetzbar

Boelter sagt, sie rate ihren Schülern davon ab, in die freie Kunst zu gehen. Aber bei Flammer war das anders. „Sie hatte das, was den meisten fehlt: die Kreativitä­t und den Biss über die Aufgabe hinaus zu gehen“, sagt sie am Telefon. Flammer denke weiter, „outside the box“.

Mit ihren Schülern ist sie damals an die Kunstakada­mie nach Düsseldorf gefahren, sie sollten die Luft dort atmen, neugierig werden. Flammer wurde neugierig. Seit sie als Abiturient­in über die Flure der Akademie ging, wollte sie bloß noch eins: dort studieren. „Die Kunstakade­mie hatte schon eine ordentlich­e Anziehung, allein der Geruch“, sagt Flammer. Manche fanden, es stank.

Sechsmal hat sich Flammer an der Kunstakade­mie beworben. Sechsmal wurde sie abgelehnt. Beim siebten Mal hatte sie schon längst andere Wege aufgenomme­n. Erst war sie an der Bildkunsta­kademie in Hamburg, dann studierte sie Malerei an der Ruhrakadem­ie in Schwerte, Kunst auf Lehramt an der Uni Essen, bevor sie doch auf den Fluren landete, auf denen es anderen stank, ihr aber nicht.

Flammer kommt aus Schermbeck, einer Gemeinde mit 14.000 Einwohnern zwischen Niederrhei­n, Münsterlan­d und Ruhrgebiet. Kunst, sagt sie, hat in ihrem Umfeld keine Rolle gespielt. Mit Anfang 20 hat sie den Kunstpreis der örtlichen Volksbank gewonnen, das galt als große Sache. Ihre Eltern fragten sie damals: Was willst du da?

Kunstlehre­rin Beate Boelter sagt: „Es ist nicht nur Talent und Fleiß, man muss sich auch verkaufen können.“Flammer hat zahlreiche Jobs, mit denen sie ihr Leben finanziert, auch die Miete für das Atelier in Oberbilk. Sie ist Dozentin an verschiede­nen Hochschule­n, arbeitet gelegentli­ch im NRW-Forum und ist Assistenti­n von Imi Knoebel, einem Beuys-Schüler.

Künstler, sagt Johanna Flammer, seien manchmal schwierige Gestalten. Sie nennt sich die Beamtin unter den Künstlern: geordnet, zuverlässi­g, vielseitig einsetzbar. Und mit diesen Tugenden hat sie es geschafft, sich einen Namen zu machen, ihre Sprache zu finden. Beate Boelter sagt: „Ich erkenne ihre Arbeiten sofort.“Im Frühjahr 2020 stellte Flammer in einer Berliner Galerie aus, aber auch diese Ausstellun­g fiel dem Virus zum Opfer.

Der Kunst bleibt wie dem restlichen Leben bloß das Internet. Viele Künstler sind dort inzwischen sehr präsent. Auf Youtube und Instagram kann man sich die „Morphing“-Ausstellun­g ansehen, auch Interviews mit den Künstlern. „Wir brauchen Sichtbarke­it“, sagt Weggel, der künstleris­che Leiter in Gladbeck. Das Internet verschafft ihnen zumindest einen Teil davon.

Was bleibt von Kunst, wenn sie ins Internet wandert? Was unterschei­det ein Kunstwerk auf Instagram von einem Foto von einer Tüte Softeis? Muss man Kunst nicht erleben, atmen, wie die Flure der Kunstakade­mie? Welches Erlebnis bietet Kunst, die in einem Wisch wieder weg ist?

Flammer findet das nicht nur schlecht. Sie sagt, dass manche nun neue Museen entdecken, neue Künstler. Dinge, die sie nicht gefunden hätten, wenn der Lockdown die Kunst ins Internet getrieben hätte.

Die leuchtende­n Bilder sind die 54,9 Kilometer zurückgefa­hren. Johanna Flammer hat sich nicht von sechs Absagen der Kunstakade­mie abschrecke­n lassen, sie hat sich auch nun nicht lange geärgert. Und bald kann man ja wieder in ein Museum. Vielleicht gibt es etwas zu feiern – und vielleicht öffnet Johanna Flammer mal wieder eine Flasche.

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Atelier in Düsseldorf. Sie ist in Wesel geboren und in Schermbeck aufgewachs­en.
FOTO: RUMBACH / KUNSTBAR Johanna Flammer in ihrem Atelier in Düsseldorf. Sie ist in Wesel geboren und in Schermbeck aufgewachs­en.
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FOTO: BRANDT/NGG Eine Ausstellun­g, die nie öffnete: Bilder von Johanna Flammer und Figuren von Paul Schwer. Ab 19. März stellt Tim Eitel in Gladbeck aus.

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