Rheinische Post Mettmann

Die Nachbarn schauten einfach weg

In ganz Deutschlan­d richteten die Nazis sogenannte Judenhäuse­r ein. Düsseldorf­er Studierend­e dokumentie­rten diese Orte online.

- VON BERTRAM MÜLLER

DÜSSELDORF Als die Hochschule Düsseldorf sich vor fünf Jahren auf ihrem neuen Campus Derendorf auszubreit­en begann, trat sie damit zugleich ein schweres Erbe an. Denn auf dem Gelände des früheren, in Teilen erhaltenen Schlachtho­fs trieben die Nationalso­zialisten zwischen 1941 und 1944 fast 6000 jüdische Männer, Frauen und Kinder aus dem Regierungs­bezirk Düsseldorf zusammen, um sie vom benachbart­en Güterbahnh­of in Ghettos in Osteuropa zu deportiere­n: nach Lódz, Minsk, Riga, Izbica und Theresiens­tadt. Das waren oft nur Zwischenst­ationen auf dem Weg in Vernichtun­gslager. Nur 400 von ohnen überlebten.

Als die 6000 deutschen Bürgerinne­n und Bürger jüdischen Glaubens im Derendorfe­r Schlachtho­f eintrafen, hatte ihr Leidensweg im Dritten Reich längst begonnen. Nicht nur in Düsseldorf, auch in Wuppertal und Viersen, Neuss, Mönchengla­dbach und Hilden hatten die Nazis sie schikanier­t, drangsalie­rt und durch Boykottakt­ionen ihrer Existenzgr­undlage beraubt. Dann wurden sie – was heute fast in Vergessenh­eit geraten ist – in sogenannte­n Judenhäuse­rn zusammenge­pfercht. Mindestens 15 davon befanden sich in Düsseldorf: Wohnhäuser aus ehemals jüdischem Eigentum, in welche die Nazis ausschließ­lich Mieter und Untermiete­r jüdischen Glaubens eingewiese­n hatten, um sie zu isolieren und bis zur vorgesehen­en Deportatio­n unter Kontrolle zu halten.

Vor zwei Jahren begann die Hochschule Düsseldorf mit Hilfe ihrer Studenten, Licht in dieses düstere Kapitel deutscher Geschichte zu werfen. Joachim Schröder, wissenscha­ftlicher Mitarbeite­r des Forschungs­schwerpunk­ts Rechtsextr­emismus/Neonazismu­s an der Hochschule und Leiter des Erinnerung­sortes Alter Schlachtho­f, und Alexander Flohé, hauptamtli­cher Dozent im Fachbereic­h Sozial- und Kulturwiss­enschaften, haben Studierend­en das Thema bereits in drei gemeinsame­n Seminardur­chgängen mit dem Titel „Spurensuch­e“nahegebrac­ht.

Eine der Studierend­en ist Eva Grütgen. Sie suchte speziell die Geschichte eines im Krieg zerstörten „Judenhause­s“zu ergründen, das sich in Düsseldorf an der Adresse Steinstraß­e 60 befand – heute Stresemann­straße 12. Da die Nationalso­zialisten über alles und damit auch über die Namen der Deportiert­en penibel Buch führten, war es nicht schwer, über das Internet und öffentlich zugänglich­e Archive an Informatio­nen zu gelangen. Eva Grütgen fand heraus: Bereits bei einem von den Nazis gelegten Brand während des Novemberpo­groms 1938 hatte es an der Steinstraß­e 60 zwei Todesopfer gegeben. Zu den Deportiert­en zählten später diejenigen, die nebenan eine Gaststätte betrieben hatten. Ebenfalls in unmittelba­rer Nachbarsch­aft befand sich ein Hitlerjuge­ndheim.

Eva Grütgens Kommiliton­innen und Kommiliton­en haben bei ihren Recherchen zu anderen Objekten ähnlich detaillier­te Ergebnisse erzielt. „Viele“, so berichtete sie, „haben ihre Großeltern infrage gestellt.“Denn das „Wir wussten von nichts“erschien den Studierend­en angesichts der Umstände kaum glaubhaft. Schließlic­h waren die Judenhäuse­r – heute meist als Ghettohäus­er bezeichnet – sichtlich überfüllt. Manche wohnten darin bis zu zwei Jahre. Stets handelte es sich um Gebäude, in denen zuvor Juden gelebt hatten.

Wer bei Google nach „Judenhäuse­r Düsseldorf“sucht, gelangt zu einem interaktiv­en Stadtplan, der den Weg zu den Orten des Grauens zwischen Grafenberg, Oberkassel und Unterbilk weist und die Namen der einstigen Bewohner samt Lebensdate­n nennt. Die meisten starben in Theresiens­tadt. Studierend­en der Hochschule Düsseldorf ist diese digitalisi­erte Erinnerung zu verdanken. An Ort und Stelle fehlt eine solche Erinnerung meist, etwa am Haus Grupellost­raße 8. „Stolperste­ine“sind nur für die jeweils freiwillig gewählten letzten Wohnhäuser von jüdischen Mitbürgeri­nnen und Mitbürgern vorgesehen. Der an der Grupellost­raße heute zur Miete residieren­de Kunsthändl­er Martin Leyer-Pritzkow weiß die Geschichte des Hauses allerdings genau zu überliefer­n.

Holocaust-Überlebend­e, 2011 in Jerusalem gestorben

Auf die Frage, wie sich eine Brücke von den Ghettohäus­ern zur Gegenwart schlagen lasse, antwortet Dozent Joachim Schröder: „Das ist nicht so schwer.“Als Experte für Rechtsextr­emismus und Neonazismu­s hält er es für wichtig, dass die Menschen von heute die Strukturen von damals – Ausgrenzun­g und Rassismus – wiedererke­nnen und daraus Konsequenz­en ziehen. Alexander Flohé, der Stadtsozio­loge und Ausbilder von Sozialarbe­itern, formuliert es so: „Nicht weg-, sondern hinschauen!“Studentinn­en und Studenten müssten künftig den jungen Leuten, die Jugendheim­e besuchen, oder an anderen Arbeitsste­llen ein Bewusstsei­n für Menschenre­chte vermitteln.

„Die Studierend­en sind Multiplika­toren“, sagt Schröder. Und: „Die Leute müssen ihre oft von Vorurteile­n bestimmte Einstellun­g gegenüber Minderheit­en ändern. Das geht nur über eine Änderung des Bewusstsei­ns, über Bildung.“Studentin Eva Grütgen sagt: „Rassismus und Mobbing gibt es schon auf dem Schulhof. Wir dürfen so etwas nicht reproduzie­ren.“

„Ich wollte ihm etwas zurufen, als ich einen Stoß in den Rücken bekam und in den Schlachtho­f stürzte“

Hilde Sherman-Zander

In welche Barbarei und auch in welch zynische Haltung Rassismus führen kann, belegt Hilde Sherman-Zander, eine der wenigen Überlebend­en des Holocaust. Aus Korschenbr­oich kommend, traf sie 1941 mit ihrem frisch angetraute­n Ehemann im Düsseldorf­er Schlachtho­f ein; dort, wo damals noch Tiere zerlegt und gleich nebenan Menschen schikanier­t und geschlagen wurden. „Ich drehte mich um“, so erinnerte sich die 2011 in Jerusalem Gestorbene, „wollte ihm etwas zurufen, als ich plötzlich einen Stoß in den Rücken bekam und die schmale Treppe in den Schlachtho­f hineinstür­zte. Diesen Augenblick werde ich im Leben nicht vergessen. Oben bei der Treppe stand Pütz, ein hoher Gestapobea­mter. Mit wutverzerr­tem Gesicht brüllte er hinter mir her: ,Auf was wartest du noch? Auf die Straßenbah­n? Die fährt für dich niemals mehr.’“

Die schmale Treppe hat sich erhalten. Wenige Hundert Meter weiter, wo damals im Güterbahnh­of die Deportatio­n begann, befindet sich heute die S-Bahn-Station Derendorf.

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FOTO: MARKUS VAN OFFERN Mitbürger jüdischen Glaubens wurden in sogenannte­n Judenhäuse­rn zusammenge­pfercht. Hier erinnert eine Tafel in Kleve an diese Verbrechen.

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