Die Impfkommission und ihr Chef
Besonders groß ist die dritte Priorisierungsgruppe. Nach welchen Untergruppen sollte man hier vorgehen?
MERTENS Ich hoffe, dass bis dahin die Hausärzte in das Impfen eingebunden sind. Den Ärzten traue ich zu, dass sie abschätzen können, wer von ihren Patienten das höchste Risiko hat. Die Priorisierung innerhalb einer Stufe kann man nicht von Staats wegen organisieren.
Die Stiko empfiehlt Astrazeneca nun doch auch für über 65-Jährige. War Ihre Vorsicht mitverantwortlich für das Image-Problem von Astrazeneca?
MERTENS Ich habe kübelweise böse E-Mails bekommen, obwohl die eingeschränkte Empfehlung zu Beginn völlig korrekt war. Stellen Sie sich vor, wir hätten einen Impfstoff gerade für die Hochrisikogruppen empfohlen und später hätte sich herausgestellt, dass er ungeeignet ist. Dass der Impfstoff in Verruf geraten ist, hat nichts mit der Stiko zu tun. Es wurde öffentlich auf der vermeintlich schlechteren Wirksamkeit herumgehackt und dabei wurden auch falsche Daten herangezogen. Die Stiko muss sich aber an Evidenz halten. Das war kein Fehler. Die jetzt aktualisierte Empfehlung erfolgte innerhalb von drei Tagen nach Bekanntwerden der Daten. Viele europäische Länder einschließlich Schweden haben die Altersgrenze unter 65 festgelegt.
Kein Impfstoff hat eine Zulassung für Kinder. Erwarten Sie, dass alle Impfstoffe für Kinder geeignet sind?
MERTENS Ich bin sicher, dass es einen Impfstoff für Kinder geben wird. Derzeit untersuchen die Hersteller in Studien, wie ihre Mittel bei Kindern wirken. Diese Studien sind sehr wichtig, schließlich geht es um die Impfung gesunder Kinder, wovon die allermeisten auch ohne Impfung keine Symptome oder keinen schweren Verlauf haben würden. Zudem wissen wir, dass die Nebenwirkungen oft umso stärker sind je jünger die Menschen sind. Andererseits haben Kinder weniger immunologische Vorerfahrung mit Schnupfenviren, das kann die Wirksamkeit beeinflussen.
Die Ständige Impfkommission am Robert-Koch-Institut spricht Impfempfehlungen für Deutschland aus und empfiehlt die Reihenfolge des Impfens.
Der Virologie-Professor Thomas Mertens (geboren 1950 in Freiburg) leitet seit 2017 die Ständige Impfkommission.
Werden Kinder noch in diesem Jahr geimpft?
MERTENS Ich bin mir nicht sicher, ob das dieses Jahr noch etwas wird. Vielleicht können wir Ende des Jahres mit der Impfung der Kinder beginnen. Der Biontech-Impfstoff ist ja bereits für 16-Jährige zugelassen.
Was halten Sie eigentlich vom russischen Impfstoff Sputnik V, der in vielen Ländern gegeben wird?
MERTENS Das ist ein guter Impfstoff, der vermutlich auch irgendwann in der EU zugelassen wird. Die russischen Forscher sind sehr erfahren mit Impfungen. Sputnik V ist clever gebaut: Wie bei Astrazeneca handelt es sich um einen Vektorimpfstoff, der auf einem Adenovirus basiert. Aber anders als bei Astrazeneca verwendet er zwei unterschiedliche Vektorviren für die erste und zweite Dosis. Das ist sehr klug, denn dadurch kann er potenziell auftretende Wirksamkeitsverluste durch Immunantworten gegen die Vektoren verhindern.
Welche Mutation macht Ihnen denn die meisten Sorgen?
MERTENS Wenn sich die Spike-Proteine, die den Coronaviren ihr stacheliges Aussehen verleihen, zu stark verändern, können die Impfstoffe diese Mutanten nicht mehr erfassen. Sorgen machen uns die Varianten aus Südafrika, Brasilien und New York. Allerdings ist hier die Wirksamkeit der verfügbaren Impfstoffe noch nicht gut untersucht. Die gute Nachricht ist, dass die Hersteller ihre Impfstoffe anpassen können. Besonders schnell geht das bei mRNA-Impfstoffen, das dauert im Labor etwa sechs Wochen. Mehr Zeit braucht man bei Vektorimpfstoffen und noch mehr Zeit bei Impfstoffen aus Zellkulturen, wie dem aus China.