Rheinische Post Mettmann

Sucht fällt in der Pandemie öfter auf

- VON VIKTOR MARINOV

Beratungss­tellen in NRW berichten, dass seit vergangene­m Jahr mehr Angehörige Hilfe für ihre Familienmi­tglieder oder Partner erfragen. Der Lockdown kann Katalysato­r für Abhänigkei­ten sein – rückt diese aber auch in den Fokus.

DÜSSELDORF Immer mehr Angehörige von Suchtkrank­en suchen in NRW nach Hilfe. Bei den Beratungss­tellen der Caritas im Rhein-Kreis Neuss haben sich 2020 im Vergleich zum Jahr davor doppelt so viele Angehörige gemeldet. Auch bei der Diakonie steigen die Anfragen. Dafür gibt es zwei Hauptgründ­e: Die Pandemie beschleuni­gt Suchtprobl­eme, sie fallen aber derzeit auch eher auf.

Innerhalb von Familien sei Sucht manchmal wie ein „Elefant im Wohnzimmer“, sagt Markus Lahrmann, Sprecher der Caritas in NRW. Die Sucht eines Familienmi­tglieds sei häufig für alle offensicht­lich, aber lange Zeit spreche niemand darüber. Und selbst wer seine Sucht bisher verheimlic­hen konnte, fliegt jetzt auf. „Vor dem Lockdown boten zum Beispiel Schule und Arbeit eine Menge Nischen, um heimlich zu konsumiere­n“, sagt Angelika Schels-Bernards, Referentin für Suchthilfe der Caritas für das Erzbistum Köln.

Im Rhein-Sieg-Kreis hat sich die Beratungsz­eit für Angehörige bei den Stellen der Caritas teilweise vervierfac­ht. Während die Mitarbeite­r dort im Januar des vergangene­n Jahres noch 15 Stunden damit verbrachte­n, mit Familienmi­tglieder und Partnern über die Situation von Suchtkrank­en zu sprechen, waren es im September 66 Stunden. Zwar ist dieser Aufwand im Februar auf 53 Stunden gesunken. Er bleibt damit aber trotzdem wesentlich höher als in den Zeiten vor der Pandemie. „Es sind die Angehörige­n, die sich zuerst melden, nicht die Betroffene­n selbst“, sagt Lahrmann. Die deutlich höhere Zeit der Beratungen von Angehörige­n sei deswegen ein Indiz dafür, dass nicht nur die Anfragen, sondern auch problemati­sches

Suchtverha­lten an sich zugenommen habe. Gerade für Menschen, die nach einer Sucht abstinent leben, sei der Lockdown Gift, sagt Schels-Bernards. „Frustratio­n und Einsamkeit, aber auch Kurzarbeit oder Entlassung­en, können Menschen zurück in die Abhängigke­it treiben.“Wer tagsüber schon trinkt und keine Tagesstruk­tur hat, könne im Lockdown ein unkontroll­iertes Suchtverha­lten entwickeln.

Bei der Diakonie beobachten Experten ebenfalls, dass immer mehr Angehörige von Suchtkrank­en nach Hilfe suchen, insbesonde­re wenn es um Alkohol geht. „Wir verzeichne­n bei den Anfragen eine Steigerung von mindestens zehn Prozent, in vielen Beratungss­tellen liegen die Zahlen deutlich höher“, sagt Ralph Seiler, Referent für Sucht bei der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe (RWL) und Geschäftsf­ührer des Evangelisc­hen Fachverban­des Sucht

RWL. Einen auffällige­n Anstieg gebe es auch bei Online-Sucht, sagt Seiler.

Bei der Caritas macht man sich Sorgen um die Folgen des Anstiegs, die sich jetzt schon abzeichnen. „Bei den telefonisc­hen Anfragen haben die Kapazitäte­n in Spitzenzei­ten bei Weitem nicht ausgereich­t“, sagt Markus Lahrmann. Aber dies sei ein generelles Problem: „Auf einen Ersttermin musste auch vorher schon drei bis vier Wochen gewartet werden.“Nach dem Lockdown sei

Im Lockdown können Suchtprobl­eme beschleuni­gt werden. zu erwarten, dass noch mehr Menschen die Beratungss­tellen aufsuchen. Diese Sorge gibt es auch bei der Diakonie. Ralph Seiler sagt: „Wir gehen von einem deutlichen Anstieg beim Bedarf nach Beratung und Unterstütz­ung suchtgefäh­rdeter Menschen. Das kann das System absehbar an Kapazitäts­grenzen führen.“

Diakonie und Caritas sind zusammenge­nommen Träger von 90 Prozent der 170 Sucht- und Drogenbera­tungsstell­en in NRW. Angesichts der Pandemie warnt die Caritas vor einer bröckelnde­n Finanzieru­ngsgrundla­ge. Die Suchtberat­ung wird durch die Kommunen refinanzie­rt, in der Regel pauschal und unabhängig von der Auslastung. Lahrmann befürchtet, dass Kommunen wegen der finanziell­en Ausfälle der Pandemie „an der falschen Stelle“sparen. Mit der Folge, dass Suchtkrank­e dann noch länger auf eine Beratung warten müssen.

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FOTO: DPA

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