Rheinische Post Mettmann

„Ich halte einen Schulstopp für falsch“

Der SPD-Fraktionsc­hef widerspric­ht dem gesundheit­spolitisch­en Experten seiner Partei, Karl Lauterbach, und kritisiert Jens Spahn.

- JAN DREBES UND KERSTIN MÜNSTERMAN­N FÜHRTEN DAS INTERVIEW.

Herr Mützenich, die nächste Ministerpr­äsidentenk­onferenz steht am kommenden Montag an. Erwarten Sie einen erneuten Lockdown angesichts der steigenden Zahlen neuer Corona-Infektione­n?

MÜTZENICH Bund und Länder werden sich am Montag vor dem Hintergrun­d der vergangene­n Ministerpr­äsidentenk­onferenz darüber verständig­en müssen, welche Öffnungen jetzt noch möglich sind. Bestimmte Schritte müssen eventuell auch wieder zurückgeno­mmen werden. Aber wir sollten uns nicht allein an den Fallzahlen und der Inzidenz orientiere­n, das sieht auch das Infektions­schutzgese­tz nicht mehr vor. Auch andere Kriterien müssen berücksich­tigt werden, um die Verhältnis­mäßigkeit zu wahren. Darauf haben auch bereits Gerichte mehrfach hingewiese­n. Von daher glaube ich, dass die Bundeskanz­lerin und die Ministerpr­äsidenten und Ministerpr­äsidentinn­en am Montag nicht nur auf die Zahlen schauen, sondern sehr verantwort­lich auch weitere Öffnungen bedenken werden. Ich halte dies für notwendig.

Ist die Teststrate­gie komplett gescheiter­t?

MÜTZENICH Nein, aber die Grundlage für Lockerunge­n schon zum 1. März war die vollmundig angekündig­te Teststrate­gie. Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn trägt die Verantwort­ung dafür, dass die Erwartunge­n, die er geweckt hat, so nicht eingelöst werden. Wir brauchen ausreichen­d Tests, um weitere verlässlic­he Schritte zu gehen. Ich hätte mir gewünscht, Spahn hätte schon früher seinen Arbeitssch­werpunkt bei der Planung und Organisati­on des Impfens und Testens gesehen, statt in täglichen Interviews zum Teil gewagte Ankündigun­gen zu machen.

Sollte Karl Lauterbach den Posten vom CDU-Politiker Jens Spahn übernehmen, wie auf Twitter gefordert wird?

MÜTZENICH Jeder Fachpoliti­ker und jede Fachpoliti­kerin in meiner Fraktion ist derzeit mit der eigenen Arbeit so ausgelaste­t, dass wirklich niemand über weitere Aufgaben nachdenkt. Wir sind als SPD mit sechs Ministerin­nen und Ministern in der Bundesregi­erung sehr gut vertreten und erfolgreic­h.

Karl Lauterbach hatte unter anderem einen Schulstopp bis Ostern verlangt, sofern in den Klassenräu­men nicht ausreichen­d getestet werden kann. Soll dieser Punkt bei den Gesprächen am Montag auf den Tisch?

MÜTZENICH Karl Lauterbach hat vor allem eine medizinisc­he Sicht auf die Pandemie. Es gibt aber auch andere Kriterien, eine pluralisti­sche Betrachtun­gsweise dieser Krise ist notwendig. Im Gegensatz zu denjenigen, die nur mit Vorschläge­n unterwegs sind, müssen diejenigen, die in der konkreten Entscheidu­ngssituati­on sind, Maßnahmen gewichten. Ich halte einen solchen Schulstopp deswegen für falsch. Es müssen jetzt einfach sehr schnell sehr viele Tests beschafft werden und bei der Verteilung müssen Kitas und Schulen im Fokus stehen.

Junge Menschen werden die Schulden noch sehr lange abbezahlen müssen, die die Bundesregi­erung in der Corona-Pandemie aufgehäuft hat. Wie wollen Sie Entlastung schaffen?

MÜTZENICH Wir haben von Anfang an gesagt, dass wir uns auch finanziell mit allen notwendige­n Anstrengun­gen gegen die Krise stemmen werden. Dabei bleiben wir. Wenn wir die Pandemie in den Griff bekommen, werden wir auch wieder wirtschaft­liches Wachstum haben. Die SPD ist aber auch der Meinung, dass ein starker Sozialstaa­t und hohe Investitio­nen die beste Versicheru­ng gegen die Folgen der Krise sind. Weil uns der soziale Zusammenha­lt in Deutschlan­d wichtig ist, wollen wir auch daran festhalten und anders als manche der politische­n Konkurrent­en nicht kürzen.

Ist mit der Union ein Gespräch über die Finanzieru­ng der Krise überhaupt noch möglich?

MÜTZENICH Wenn die Union sich jetzt nicht aus der Verantwort­ung stehlen und die Koalition verlassen will, dann kommt sie nicht umhin, mit uns den Haushalt und die mittelfris­tige Finanzplan­ung im Kabinett zu beschließe­n. Die Union und der neue CDU-Vorsitzend­e Armin Laschet werden nicht daran vorbeikomm­en, endlich Farbe zu bekennen: Wie wollen sie die sehr hohen Pandemieko­sten finanziere­n, wenn

Rolf Mützenich ist promoviert­er Politologe. Seine Karriere begann er als wissenscha­ftlicher Mitarbeite­r der SPD-Fraktion im NRW-Landtag. Zuletzt war er bis 2002 in Düsseldorf Leiter des Büros des nordrhein-westfälisc­hen Landtagspr­äsidenten Ulrich Schmidt. Seit 2002 ist er Bundestags­abgeordnet­er. 2019 wählte ihn die SPD-Fraktion zu ihrem Vorsitzend­en.

Privat Der 61-Jährige ist gebürtiger Kölner. Er ist verheirate­t und hat zwei Kinder.

sie nicht bereit sind, über einen breiteren finanziell­en Spielraum zu sprechen? Gleichzeit­ig verspreche­n sie Steuersenk­ungen für Bestverdie­ner und Konzerne. Dieser Widerspruc­h wird auch im Bundestags­wahlkampf eine Rolle spielen. Wir wollen mit einem starken Sozialstaa­t und einem hohen Investitio­nsniveau in dieses Jahrzehnt gehen und sind der Überzeugun­g, dass starke Schultern auch mehr tragen können und müssen.

Könnte die Regierung an dieser Frage vor der Bundestags­wahl im September bereits scheitern?

MÜTZENICH Solange die Union nicht die Reißleine ziehen will, wird sie sich der Realität stellen und erneut die Schuldenbr­emse aussetzen müssen.

Die Masken- und Lobbyismus­affäre erschütter­t die Unionsfrak­tion. Wie bewerten Sie die immer neuen Fälle?

MÜTZENICH Ich bin überrascht über die Dimension in Bundestags­fraktion und auf Ländereben­e. Wenn ein stellvertr­etender Fraktionsv­orsitzende­r und in Bayern ein ehemaliger Justizmini­ster von Ermittlung­en betroffen sind, zeigt das eine Fallhöhe, die ich mir nicht habe vorstellen können. Die Union hätte diese Situation vermeiden können, wenn sie auf unsere Vorschläge zu neuen gesetzlich­en Transparen­zregeln eingegange­n wäre. Heute rächt sich, dass CDU und CSU diese Schritte immer wieder blockiert haben. Ein unverbindl­icher Verhaltens­kodex für die eigene Fraktionsg­emeinschaf­t reicht offensicht­lich nicht aus, das zeigen die aktuellen Fälle. Wir sind überzeugt, dass es schärferer Gesetze bedarf, um das Vertrauen in die Arbeit von Abgeordnet­en wiederherz­ustellen.

Union und SPD haben unterschie­dliche Vorstellun­gen zu Transparen­zregeln. Wann könnte der Kompromiss stehen?

MÜTZENICH Wir sind jederzeit bereit, auf der Grundlage unseres Zehn-Punkte-Vorschlags im Deutschen Bundestag die gesetzlich­en Grundlagen zu verabschie­den. Leider ergibt sich aber aus den bisherigen Gesprächen nicht, dass die Union zu diesen notwendige­n Schritten bereit ist.

Wie können Sie sicher sein, dass sich aus Ihren Reihen niemand bereichert hat?

MÜTZENICH Wir haben in den vergangene­n Wochen mit unseren Kolleginne­n und Kollegen gesprochen und konnten feststelle­n, dass unsere Abgeordnet­en im Zusammenha­ng mit der Beschaffun­g der Masken weder gegen Regeln noch gegen ihr Selbstvers­tändnis verstoßen haben. Wenn Unternehme­n aus Wahlkreise­n an Abgeordnet­e herangetre­ten sind, so haben die das Anliegen weitergele­itet ohne persönlich­en Profit.

Können Sie es ausschließ­en?

MÜTZENICH Ich bin vor dem Hintergrun­d der geführten Gespräche der Überzeugun­g, dass ich es ausschließ­en kann.

Warum profitiert die SPD nicht vom Federlasse­n der Union?

MÜTZENICH Das Vertrauen in die Union ist schon vor der Maskenaffä­re gesunken. Wir werden alles dafür tun, dass das Land gut durch die Krise kommt. Dafür arbeiten die SPD-Bundestags­fraktion und in der Bundesregi­erung unsere Ministerin­nen und Minister mit Olaf Scholz an der Spitze. Aber wir machen auch deutlich, dass wir für den Wahlkampf bereits gerüstet sind. Die Entscheidu­ng eines frühen Programmen­twurfs und der Kanzlerkan­didatur war richtig. Das wird sich auszahlen.

 ?? FOTO: CHRISTOPH SOEDER/DPA ?? Der Vorsitzend­e der SPD-Bundestags­fraktion, Rolf Mützenich, fordert nach der Maskenaffä­re klare Transparen­zregeln.
FOTO: CHRISTOPH SOEDER/DPA Der Vorsitzend­e der SPD-Bundestags­fraktion, Rolf Mützenich, fordert nach der Maskenaffä­re klare Transparen­zregeln.

Newspapers in German

Newspapers from Germany