Rheinische Post Mettmann

„Ich hab Heimweh nach vielen Orten“

Der „Düsseldorf­er des Jahres“und Regisseur von Filmen wie „Paris, Texas“und „Buena Vista Social Club“steckt mit 75 voller Tatendrang.

- GREGOR MAYNTZ FÜHRTE DAS INTERVIEW

BERLIN Mit großer Freude greift er zu der Auszeichnu­ng, die pandemie-bedingt nicht überreicht wird, sondern in der NRW-Landesvert­retung auf einem Tisch für ihn bereitsteh­t. Wim Wenders betrachtet den Löwen auf dem Kristallpr­eis und sagt: „Ich bin ja selbst Löwe“, fällt unmittelba­r ins Rheinische: „jut jebrüllt!“Ein Gespräch über sein Düsseldorf-Gefühl, die Heimat einer weltweiten Legende und Erfahrunge­n des Künstlers in der Pandemie.

Wieviel Düsseldorf haben Sie bei ihren Stationen in Deutschlan­d, Europa und der Welt dabeigehab­t?

WENDERS Düsseldorf war und ist eine weltoffene Stadt, und davon habe ich eine große Portion mitbekomme­n. Ich wollte immer hinaus in die Welt, und weil auch der Rhein von weither kam und nach weither ging, kam mir das ganz natürlich vor, ebenfalls weit weg zu wollen. Und irgendwie hatte ich die „Düsseldorf­er Schule“im Blut, sowohl die der Malerei aus dem 19. Jahrhunder­t, was ja vor allem Landschaft­smalerei war, als auch die fotografis­che, auch wenn ich das nie studiert oder die Bechers je kennengele­rnt habe.

Erkennen Sie bei der Selbstbeob­achtung etwas, was sie als typisch für einen Rheinlände­r empfinden?

WENDERS Eine rheinische Gelassenhe­it

oder Lässigkeit. Und definitiv einen ausgeprägt­en Hang zum Optimismus. Pessimiste­n waren mir immer rätselhaft­e Gestalten.

Welchen Anteil an Ihrem Lebenswerk rechnen Sie den Genen, der Herkunft, der Erfahrung zu?

WENDERS Jeweils 50 Prozent. Dann komme ich auf die 150 Prozent, mit denen jeder gute Rheinlände­r ausgestatt­et ist.

Campino sprach in der Laudatio zum „Düsseldorf­er des Jahres“vom Heimatgefü­hl als „umgedrehte­m Kompass“: Je weiter weg, desto besser. Was ist Heimat für Sie?

WENDERS Das fand ich in Campis Rede einen ziemlich klugen Ausdruck. Das ist nämlich wirklich reziprok. Je mehr man weg wollte, und tatsächlic­h weg war, umso mehr kann man auch wertschätz­en, wo man herkommt, und es lieben, wenn man zurückkomm­t. Einer, der nie „in der Welt“war, kann auch zur „Heimat“nur das denken und fühlen, was er seit eh und je da empfunden hat, oder noch empfindet. Das mag natürlich viel sein, und tief, aber es fehlt das Koordinate­nsystem aller anderen Aspekte der Welt. Als ich mal von Alexander vom Humboldt den Satz gelesen habe: „Die gefährlich­ste Weltanscha­uung ist die Anschauung der Leute, die die Welt nicht angeschaut haben,“war ich sehr einverstan­den. Wenn man viel von der Welt gesehen hat, sieht man auch im wahren Sinne des Wortes „mehr“und hat ein größeres Gesichtsfe­ld. Und gerade das erlaubt einem die Entdeckung – oder Wiederentd­eckung – der Heimat mit anderen Augen.

An welchen Orten war für Sie am meisten Heimat?

WENDERS Immer da, wo ich hingehörte, wo ich wusste: Da bin ich aus gutem Grund, da bin ich bei mir. Das war dann letzten Endes auch immer in der deutschen Sprache, die kann man ja überall hin mitnehmen. Erst als ich nach sieben Jahren Amerika gemerkt habe, dass ich anfange, auf Englisch zu denken, sogar zu träumen, und in meine Sprache immer mehr amerikanis­che Floskeln einflossen, da habe ich gemerkt: Ich muss zurück. Eines darfst du nie verlieren: deine eigene Sprache.

Und heute?

WENDERS Ich bin froh, in Deutschlan­d zu leben. Ich hab Heimweh nach vielen Orten auf der Welt, von Tokio bis nach San Franzisco oder der australisc­hen Wüste, und komme, so Gott will, auch noch mal an den einen oder anderen Sehnsuchts­ort zurück, aber ich lebe jetzt da, wo ich hingehöre.

Brauchen die Menschen in der Globalisie­rung mehr Heimat?

WENDERS Unbedingt! Je präsenter „die Welt“wird und ihr unmittelba­rer Einfluss auf jeden Einzelnen, umso wichtiger wird für diesen Einzelnen seine Herkunft. Früher war’s einfach, da war die Welt „da draußen“, und man war selbst „bei sich drinnen“. Jetzt ist uns die Welt schwer auf die Pelle gerückt und ist überall da, auch „bei uns“. Deswegen kommt sie vielen Menschen „bedrohlich“vor, eben weil sie schnell unspezifis­ch, unüberscha­ubar und gewaltig erscheint. Da hält man sich desto lieber an dem fest, was man kennt und was spezifisch ist, also erst mal an dem unmittelba­ren Ort, an dem man aufgewachs­en ist. Das ist voll verständli­ch und menschlich. Aber schon dann nicht mehr zukunftsta­uglich – und war es nie –, wenn es heißt, anderes und andere auszuschli­eßen, womöglich mit Gewalt. „Ausschließ­en“ist eine Haltung, die dem Ausschließ­enden selber auf die Dauer am meisten schadet. Wir Rheinlände­r haben das nie getan, und das hat uns so weltoffen und liebenswer­t gemacht.

Wie haben Sie die Pandemie bisher erlebt, fühlten Sie sich eingeschrä­nkt und eingesperr­t?

WENDERS Meine Frau und ich, wir haben versucht, diese Zurückgewo­rfenheit auf uns selbst, diese Abstinenz von Reisen, dieses Fehlen von Kontakten und so weiter auch als eine Chance zu verstehen, Dinge zu hinterfrag­en. Wie haben wir bis jetzt gelebt? Wie wollen wir in Zukunft leben? Muss ich jeden zweiten Tag zu einem Flughafen und durch Hunderte von Metern Duty-Free-Shops hecheln? Können wir nach so viel unstetem Leben, wie es das Filmgeschä­ft mit sich bringt, auch wieder Stetigkeit genießen? Und ganz ehrlich: Wir haben von den Einschränk­ungen viel gelernt. Gut, nun haben wir auch keine Kinder und haben deshalb gut reden. Andere hatten es tausendmal schwerer. Aber auch meine Filmproduk­tion und unsere Stiftung waren von der Pandemie existenzie­ll bedroht, und wir haben unser Bestes tun müssen, Arbeitsplä­tze zu erhalten. Hinter allem aber die lehrreiche Erfahrung, dass weniger mehr sein kann.

Die Impfreihen­folge geht nach Alter und Systemrele­vanz. Wie relevant ist die Kultur?

WENDERS Wie immer bei politische­n Entscheidu­ngen muss die Kultur sich hinten anstellen. Wenn’s um nichts geht, nimmt die Politik immer den Mund

voll, wie wichtig doch Kultur für unsere Gesellscha­ft ist, für unsere Zivilisati­on, für unser Gemeinscha­ftsgefühl. Und kaum kommt mal ein Ernstfall, ist das schnell vergessen. Dann stehen die Kulturscha­ffenden hinten in der Schlange. Leider auch, weil sie keine gute Interessen­vertretung haben, denke ich. Das liegt vielleicht in der Natur der Sache, aber gerade deswegen muss man das für den nächsten Ernstfall anders regeln.

Wie kann, wie sollte der Film die Corona-Erlebnisse der Menschen aufarbeite­n?

WENDERS Der Film hat da durchaus eine wichtige Aufgabe. Wenn es „wieder weitergeht“, haben wir trotzdem alle diese Pandemie-Erfahrunge­n gespeicher­t. Am meisten die Kinder und Jugendlich­en, die auch am schlimmste­n drunter leiden. Wie es dann weitergeht, und wie man entweder zurückfäll­t in „alte Fehler“und „business as usual“durchzieht, oder wie lernfähig die Menschheit durch solch eine globale Erfahrung ist, das ist ein Bereich, in dem Filme viel bewirken können.

Die Kultur hatte Hygienekon­zepte für Museen, Kinos und Konzerte mit Slots, Lüftung, Maske und Abstand entwickelt. War die Schließung gerechtfer­tigt?

WENDERS Kaum gibt es Ausnahmen, streitet man sich, dann wollen auch andere Ausnahmen haben. Es ist deswegen ein Jammer, dass man die klugen Hygienekon­zepte für Kulturvera­nstaltunge­n diesem „Ich auch!“-Dilemma geopfert hat.

Was sollte die Welt aus dieser Pandemie für die nächste lernen?

WENDERS In so einem weltumspan­nenden Event solidarisc­h handeln, nicht jeder gegen jeden. Die Weltgesund­heitsorgan­isation stärken. Die Wahrheit sagen, von Anfang an.

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FOTO: ANNE ORTHEN

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