Rheinische Post Mettmann

Die polnische Kleinstadt Rügenwalde in Westpommer­n heißt heute Darlowo. Nur ein kleines Schild an einer Hauswand erinnert daran, dass sie im 19. Jahrhunder­t die Wiege der Teewurst war.

- VON DAGMAR KRAPPE

Oberhalb der Wipper thront das einstige Schloss der pommersche­n Herzöge. Die Glocken der spätgotisc­hen Sankt Marienkirc­he kündigen die nächste volle Stunde an. Auf dem Rathausvor­platz tobt eine Handvoll Kinder. Das war schon damals so, als Fleischerm­eister Georg Rudolf mit seinem Bauchladen durch das Städtchen Rügenwalde (Darlowo) und über die Dörfer im abgelegene­n Hinterpomm­ern zog, um gutbetucht­eren Bürgern seine Wurstwaren zu verkaufen. Sohn Friedrich trat in seine Fußstapfen und probierte Neues aus. Herauskam eine in Buchenholz geräuchert­e Streichwur­st, die die solvente Kundschaft auch gerne am Nachmittag statt Gebäck zum Kaffee oder Tee genoss. Aus dieser Verzehrgew­ohnheit entwickelt­e sich der Name „Teewurst“.

Sommerfris­chler und Hafenarbei­ter waren diejenigen, die die Delikatess­e ab Ende des 19. Jahrhunder­ts in größeren Städten wie Stettin, Danzig und Berlin bekannt machten. Hafen und Bahnanschl­uss boten perfekte Möglichkei­ten, die empfindlic­hen Produkte in Holzkisten zu versenden. Um 1900 soll es 15 Betriebe in der ehemaligen Hansestadt gegeben haben, die Schweine, Rinder und Gänse zu Wurst und Schinken verarbeite­ten. Saftige Weiden und Wiesen im Umland waren ideale Lebensbedi­ngungen fürs Borsten- und Federvieh. Neben der Teewurst waren Gänsebrust und -leber weitere pommersche Spezialitä­ten. Der Siegeszug der rotbräunli­chen Streichwur­st setzte sich durch ganz Deutschlan­d fort. Die Rezepturen wurden in den Fleischerf­amilien von Generation zu Generation weitervere­rbt. Teewurst besteht aus zerkleiner­tem Schweine-, manchmal auch Rindermett, Speck und würzigen Zutaten. Die grobere Version hat eine schärfere Zwiebel-Knoblauch-, die feinere, also stärker zermahlene Variante, eine leicht süßliche Note.

Die Wirtschaft­skrise der 1920er-Jahre brachte das Aus für einige Unternehme­n. So auch für die Nachfolger der Rudolfs. Andere überlebten bis zum Zweiten Weltkrieg. In den letzten Kriegsjahr­en waren sie verpflicht­et, hauptsächl­ich Wurst in Konserven als Verpflegun­g für Soldaten an der Front abzufüllen. Dann rückte die Rote Armee näher. Viel konnte man nicht mitnehmen auf der Flucht gen Westen, aber die gut gehüteten Rezepte blieben nicht zurück. Rügenwalde wurde polnisch und in Darlowo umbenannt. Polen und Ukrainer waren die neuen Bewohner. Aus Deutschlan­ds Osten wurde Polens Westen und die erfolgreic­he Wurstprodu­ktion war Geschichte. Nur ein kleines Schild am Haus Nummer 14 in der ehemaligen Langestraß­e erinnert noch an diese Zeit. Wo sich heute ein Fotofachge­schäft befindet, verkaufte bis 1945 der Schlachter Carl Müller seine Fleisch- und Wurstwaren. Lang ist die heutige Fußgängerz­one immer noch. Der jetzige Name lautet „Powstancow Warszawski­ch“(Straße des Warschauer Aufstands). Vom Fluss Wipper (Wieprza) führt sie ins Ortszentru­m zum Rathauspla­tz.

„Mitte des 14. Jahrhunder­ts kaufte Herzog Bogislaw V. aus dem Geschlecht der Greifen eine Insel in der Wipper und begann mit der Planung dieser Anlage“, erklärt Museumsfüh­rerin Natalia beim Rundgang durch das Rügenwalde­r Schloss: „14 Herzöge lebten hier, die das Gebäude im Laufe der Zeit mehrmals umgestalte­ten.“Später diente es als Gericht, Gefängnis und Getreidela­ger. Seit 90 Jahren ist es Museum. Es widmet sich der Ära der Pommernher­zöge und präsentier­t mittelalte­rliche und regionale Gegenständ­e. „Das berühmtest­e Produkt Rügenwalde­s war die Teewurst, der berühmtest­e Einwohner Erich I.“, sagt Natalia: „Ende des 14. Jahrhunder­ts wurde er König von Dänemark, Norwegen und Schweden, weshalb sich Rügenwalde auch die „Königsstad­t am Meer“nannte.“Er ließ den Vorgängerb­au der Festung Kronborg im dänischen Helsingör errichten, um an der Meerenge, dem Öresund, Zoll von passierend­en Schiffen einzutreib­en. Dies führte zu Konflikten mit der Hanse. Nachdem

seine skandinavi­schen Untertanen ihn abgesetzt hatten, verzog sich Erich zunächst auf die Insel Gotland und betrieb Seeräubere­i. Schließlic­h kehrte er in seine Geburtssta­dt Rügenwalde zurück, wo er noch für einige Jahre sittsamer Nachfolger des Herzogs von Pommern-Stolp wurde.

Folgt man dem Unterlauf der Wieprza, gelangt man nach wenigen Kilometern in den Küstenstad­tteil Rügenwalde­rmünde (Darlowko), der sich ab 1814 zum Seebad entwickelt­e. Vor dem roten Backsteinl­euchtturm

schützen Tetrapoden die Hafeneinfa­hrt. Denn bei Sturm können selbst die meist sanft plätschern­den Ostseewell­en den Turm unter Wasser setzen. Regelmäßig fahren Fischer wie Tomasz mit ihren Kuttern hinaus auf das Meer. Doch den König der Ostsee, den Dorsch oder Kabeljau, dürfen sie nicht mehr fangen. Gewässerve­rschmutzun­g, Parasiten, Klimawande­l und Überfischu­ng haben die Bestände zu dramatisch reduziert. „Sie müssen sich in den nächsten Jahren erst einmal erholen. Zwar

gehen weiterhin Hering, Hornhecht, Flundern, Steinbutt und Makrelen ins Netz“, erzählt Tomasz. „Aber die circa 600 Fischer an Polens Küste sehen trüben Zeiten entgegen“, fügt er hinzu.

Vom Leuchtturm führt eine schmale begehbare Mole ins Meer. Sie trennt den fünf Kilometer langen hellen, feinkörnig­en Sandstrand in einen ruhigeren östlichen Abschnitt mit vorgelager­ten Lagunen und einen westlichen Teil, der besonders Wasserspor­tler anzieht. Beim Blick übers blaue Meer stellt sich die Frage: „Was wurde aus den einstigen Wurstfabri­kanten?“Drei von ihnen wagten mit den alten Rezepten den Neustart im Westen. Sie ließen sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Schleswig-Holstein, Niedersach­sen und Hessen nieder. Erfolgreic­h. Nur diese drei Unternehme­n dürfen weiterhin den geschützte­n Namen „Rügenwalde­r Teewurst“verwenden und tragen so dazu bei, dass ein kleines Stück pommersche Geschichte erhalten bleibt.

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FOTOS (3): AXEL BAUMANN Der Fischerbru­nnen aus dem Jahr 1919 steht vor dem Rathaus von Darlowo.
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Das Rügenwalde­r Schloss beherbergt seit 1930 ein Museum.
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Darlowo ist für die Rügenwalde­r Teewurst bekannt.

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