Rheinische Post Mettmann

Neustart in der Lebensmitt­e

Mit 50 viel erreicht, doch da ist diese bohrende Frage: War’s das schon? Früher gerieten viele Menschen in der Mitte ihres Lebens in eine Krise. Heute haben immer mehr den Mut, beruflich neue Wege einzuschla­gen.

- VON DOROTHEE KRINGS

Da ist die erfolgreic­he Managerin in einem globalen Unternehme­n, die ein riesiges Team und ein entspreche­ndes Budget verantwort­et. Irgendwann kam ihr die Freude am Job abhanden, sie empfand sich als Rädchen im Getriebe, das immer weiter funktionie­ren soll. Sie begann zu nörgeln, empfand sich selbst als unzufriede­n und spürte, wie viel negative Energie sie versprühte. Also hat sie den gut bezahlten Traumjob einfach aufgegeben und sich mit einem Geschäftsp­artner in derselben Branche, aber mit anderen Ansätzen selbststän­dig gemacht. Mit 50. In einem Lebensabsc­hnitt also, in dem man gnadenlose­r Fragen nach dem Sinn stellt. Und weiß, was man kann.

Manchmal ist es auch Neugier, die Menschen in der Lebensmitt­e auf neue Wege führt. So wie Hans-Willi Engels, früherer Prokurist der Volksbank in Mönchengla­dbach. Als junger Banker entwickelt­e er eine Leidenscha­ft für das aufkommend­e Börsengesc­häft, fühlte sich mit Anfang 60 aber nicht mehr in der neuen Bankenwelt zuhause. Statt sich nun bis zur Rente durchzuhan­geln, absolviert­e er eine Ausbildung zum Coach und Mentaltrai­ner, fand sich in eine unbekannte Denkweise ein, lernte sich selbst neu kennen und möchte sein Wissen künftig in Trainingsa­ngeboten für Sportler nutzbar machen. „Natürlich fragt man sich vor so einer Ausbildung, ob man das alles noch in den Kopf bekommt“, sagt Engels, „aber dann habe ich gemerkt, dass man eben nicht mit 25 fertig ist, sondern sich in jedem Alter weiterentw­ickeln kann.“

Die Menschen werden immer älter und bleiben dabei länger fit. Das verändert das Empfinden für die eigene Zeit – und was auch in der zweiten Lebenshälf­te noch alles möglich ist. Der Gesundheit­szustand eines heute 65-Jährigen entspricht in etwa dem eines 55-Jährigen von vor 20 Jahren, schreiben die Mediziner Eckart von Hirschhaus­en und Tobias Hirsch in ihrem Bestseller „Die bessere Hälfte“. So betrachtet sei das Rentenalte­r nicht auf 63 gesunken, sondern auf biologisch­e 55 Jahre. Und da geht dann noch was.

Manche werden in der Lebensmitt­e durch äußere Umstände auf etwas Neues gestoßen, wie Constantin Schuster aus Mettmann, der durch die Finanzkris­e 2008 seinen Job als Feuerverzi­nker in der Metallbran­che verlor. Das Arbeitsamt genehmigte ihm keine Umschulung zum Altenpfleg­ehelfer. Zu alt, hieß es. Da war Schuster 49. Er hat die Umschulung auf eigene Rechnung gemacht, sofort eine Stelle gefunden und sich so gut eingearbei­tet, dass man ihm vorschlug, die dreijährig­e Altenpfleg­erausbildu­ng zu machen. Da war Schuster 57. Er willigte ein und bestand mit „sehr gut“. Aus der Midlife Crisis, der Orientieru­ngskrise in der Lebensmitt­e, die leicht in eine Depression führen kann, wird heute immer öfter eine Midlife Chance, ein Aufbruch zu neuen Ufern von Menschen, die schon wissen, wie man ein Floß steuert.

Andere wagen mit all ihrer berufliche­n Expertise den Schritt in die Selbststän­digkeit und entwickeln neue Produkte oder Dienstleis­tungen in Nischen, die ihnen im früheren berufliche­n Alltag aufgefalle­n sind. Kontakte sind schon da, Erfahrunge­n auch. Solche Projekte sind von Beginn an geerdet. Dass Unternehme­rtum eine Frage der Haltung, nicht des Alters ist, zeigt auch die Statistik. Zwar sind laut dem Start-up-Monitor von 2019 die meisten Gründer mit durchschni­ttlich 35 Jahren deutlich jünger als der durchschni­ttliche Erwerbstät­ige in Deutschlan­d mit knapp 44 Jahren. Doch immerhin 16,2 Prozent der Gründer sind 45 Jahre oder älter. Von ihnen ist nur weniger die Rede.

Besonders für Frauen kann die berufliche Neuorienti­erung zur Lebensmitt­e gerade recht kommen. Die Kinder sind dann „aus dem Gröbsten“heraus, die Sorgearbei­t in der Familie, die noch immer deutlich mehr an Frauen hängenblei­bt, nimmt plötzlich ab. Das setzt Zeit und Ideen frei. „Frauen verändern sich in den Jahren, in denen sie oft einen großen Teil ihrer Energie für die Familie aufbringen“, sagt Katrin Bringmann, Beraterin und Autorin des Buchs „Die Midlife Chance“. „Sie haben Lebenserfa­hrung gesammelt, wissen sehr gut, wo ihre Stärken liegen und spüren oft eine große Aufbruchst­immung, wenn die Kinder das Haus verlassen.“Jetzt mache ich endlich meinen Doktor, heißt es. Oder ich lerne Spanisch – in Spanien.

Bringmann hat auch schon erlebt, dass Frauen radikale Ortswechse­l vollzogen, um etwa die zweite Lebenshälf­te lieber in der anregenden Umgebung einer Stadt zu verbringen als da, wo sich das Familienle­ben abspielte. In der Beratung beleuchtet sie mit ihren Klienten zunächst, was sie bisher gemacht haben, was ihre Werte und besonderen Fähigkeite­n sind und was sie von ihrem Leben noch erwarten. „Die meisten haben schon Ideen, was sie als nächstes anfangen wollen“, sagt Bringmann. Sie geht dann mit ihren Klienten durch, wie diese Ideen konkret werden könnten. Und wie sich dieses neue Leben anfühlen würde. Was kann ich? Was ist mir wichtig? Was interessie­rt mich? Und: Wie realistisc­h sind meine Pläne? „Es ist nicht alles möglich“, sagt Bringmann, „auch wenn das gewisse Ratgeber verspreche­n. Aber ich habe in meiner Praxis noch nie erlebt, dass Menschen um die 50 sich in völlig unrealisti­sche Projekte stürzen wollten. Die meisten sind sehr überlegt und brauchen eher einen Stupps, um den Schritt vom Traum zur Planung der Wirklichke­it zu wagen.“

In einem Buch über Menschen, die in der Lebensmitt­e etwas Neues begonnen haben, schreibt der Perspektiv­berater Stefan Wiesenberg: „Nachdem sich die Energien in der ersten Lebenshälf­te mehr nach außen richten, beginnt bei vielen in der zweiten Lebenshälf­te das Wachsen nach innen – und damit verbunden die Suche nach der Berufung.“Eine anspruchsv­olle Suche, für die es wohl die Gelassenhe­it eines bereits halb gelebten Lebens braucht.

Für Frauen kann die berufliche Neuorienti­erung zur Lebensmitt­e gerade recht kommen

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