Rheinische Post Mettmann

Das lange Warten

- VON FRANK HERRMANN

Nach den Schlussplä­doyers von Anklage und Verteidigu­ng müssen nun zwölf Geschworen­e entscheide­n, ob sie Derek Chauvin am Tod George Floyds für schuldig befinden. Dem Polizisten könnten bis zu 40 Jahre Gefängnis drohen.

WASHINGTON Jetzt beginnt das Warten, und wie lange es dauert, kann niemand sagen. Nachdem Anklage und Verteidigu­ng am Montag ihre Schlussplä­doyers in der Causa George Floyd gehalten haben, müssen zwölf Geschworen­e entscheide­n, ob sie den Polizisten Derek Chauvin für schuldig befinden – und wenn ja, in welchen Punkten. Dazu ziehen sie sich zu Beratungen in ein Hotel zurück, wo sie keinen Kontakt zur Außenwelt haben. Gut möglich, dass die Runde schon nach wenigen Tagen, vielleicht sogar nach wenigen Stunden, zu einem Urteil gelangt. Denkbar ist aber auch, dass sie Wochen braucht, um sich zu einigen. Oder bei dem Versuch scheitert, sich auf eine gemeinsame Sicht zu verständig­en. Für einen Freispruch reicht es schon, wenn nur einer der Meinung ist, dass begründete Zweifel an Chauvins Schuld bestehen.

Zweifel könne es angesichts eindeutige­r Beweise nicht geben, argumentie­rt der Staatsanwa­lt Steve Schleicher, als er sich am letzten Verhandlun­gstag an die Jury wendet. Auf dem Asphalt neben einem Polizeiaut­o liegend, habe Floyd wieder und wieder geklagt, dass er keine Luft bekomme: „Der Angeklagte hat es gehört, doch er hat einfach nicht zugehört.“Neun Minuten und 29 Sekunden habe Chauvin sein Knie in Floyds Nacken gedrückt. Selbst dann noch, als der nicht mehr reden konnte, als kein Puls mehr zu fühlen, als schließlic­h der herbeigeru­fene Krankenwag­en eingetroff­en war. In einem „egozentrie­rten Stolz“habe er die Passanten ignoriert, die ihn immer verzweifel­ter auffordert­en, endlich von Floyd abzulassen: „Er würde tun, was er wollte. So lange, wie er es wollte. Die Umstehende­n würden machtlos sein. Das war keine Polizeiarb­eit, das war Mord.“

Die Anklage lautet auf Mord zweiten und dritten Grades sowie auf Totschlag. Mord zweiten Grades, nach den Statuten Minnesotas ein Angriff, der mit dem nicht beabsichti­gten Tod des Angegriffe­nen endet, kann mit bis zu 40 Jahren Gefängnis bestraft werden. Um es zu belegen, hat die Staatsanwa­ltschaft in den vergangene­n drei Wochen 38 Zeugen aufgerufen. Einige, auf dem Bürgerstei­g zum Zuschauen verurteilt, als der Polizist den 46-jährigen Afroamerik­aner malträtier­te, sprachen unter Tränen von Schuldgefü­hlen, weil sie nicht eingreifen konnten. Sie habe sie spüren können, die Todesangst George Floyds, sagte Darnella Frazier, damals noch Schülerin, die das Geschehen mit ihrer Handykamer­a filmte: „Es schien, als ahnte er, dass es vorbei war.“

Kommandier­t von Chauvin, dem Dienstälte­sten, zerrten vier Beamte Floyd aus dem Streifenwa­gen, in dem er zur nächsten Polizeista­tion gebracht werden sollte, nachdem er im Lebensmitt­elgeschäft Cup Foods mit einem gefälschte­n 20-Dollar-Schein für Zigaretten bezahlt und der Manager den Notruf gewählt hatte. Unter Platzangst leidend, hatte sich der Festgenomm­ene gewehrt, als er in das Fahrzeug bugsiert werden sollte. Bis er, die Hände auf dem Rücken gefesselt, das Gesicht nach unten, auf dem Asphalt lag. Chauvin, so dessen Anwalt Eric Nelson in seinem Plädoyer, habe angesichts des vorangegan­genen Kampfes und der physischen Stärke Floyds damit rechnen müssen, dass dieser sich erneut zur Wehr setzen würde – und seine Atemnot vielleicht nur vortäusche.

Dem hatte Medaria Arradondo, der Polizeiche­f von Minneapoli­s, vor Tagen im Zeugenstan­d dezidiert widersproc­hen. In dem Moment, in dem Floyd keinen Widerstand mehr leistete, hätte Chauvin das Knie von seinem Hals nehmen müssen, betonte er. Was der Officer getan habe, entspreche weder der Ausbildung noch den ethischen Werten seines Police Department­s. Es war ein denkwürdig­er Augenblick, hat es in den USA doch absoluten Seltenheit­swert, dass Polizisten gegen Polizisten aussagen. Die Regel ist, was Kommentato­ren – nach der Farbe der Uniformen – die blaue Mauer des Schweigens nennen.

Ebenso eindeutig, wie sich Arradondo von dem Angeklagte­n distanzier­te, kam Martin Tobin, ein angesehene­r Lungenarzt, zu dem Schluss, dass Floyd an Sauerstoff­mangel starb. Die Bauchlage auf hartem Untergrund, die wegen der Handschell­en auf dem Rücken verdrehten Arme, die Tatsache, dass drei Männer auf ihm knieten – das alles habe ihm die Luft zum Atmen genommen. Die Drogen Fentanyl und Metampheta­min, die man in seinem Kreislauf feststellt­e, hätten dabei keine Rolle gespielt. Dem widersprac­h ein pensionier­ter Gerichtsme­diziner, auf den sich wiederum die Verteidigu­ng beruft. David Fowler führte den Tod Floyds auf eine Herzkrankh­eit zurück. Drogen seien ebenso ein Faktor gewesen wie die Abgase des Polizeiaut­os, die er einatmete und die womöglich eine Kohlenmono­xidvergift­ung zur Folge gehabt hätten. Wem die Jury folgt, Tobin oder Fowler, dürfte der entscheide­nde Punkt sein.

 ?? FOTO: KEREM YUCEL/AFP ?? Mitglieder von George Floyds Familie sowie Bürgerrech­tler und der Prediger Al Sharpton (r.) erreichen das Gerichtsge­bäude in Minneapoli­s.
FOTO: KEREM YUCEL/AFP Mitglieder von George Floyds Familie sowie Bürgerrech­tler und der Prediger Al Sharpton (r.) erreichen das Gerichtsge­bäude in Minneapoli­s.

Newspapers in German

Newspapers from Germany