Rheinische Post Mettmann

Der IS meldet sich zurück

Der Angriff auf ein Gefängnis im Nordosten Syriens ist die schlimmste Attacke der Terrormili­z seit Jahren. Die Gegend steht für den Westen nicht mehr im Zentrum des Interesses – aber dort braut sich neues Unheil zusammen.

- VON THOMAS SEIBERT

Der schwerste Angriff des Islamische­n Staates seit dem Ende seines sogenannte­n Kalifats vor mittlerwei­le drei Jahren kam nicht aus heiterem Himmel. Schon lange bevor IS-Trupps mit Autobomben und schweren Maschineng­ewehren zum Sturm auf das Gefängnis der nordostsyr­ischen Stadt Hassaka ansetzten, um Tausende Gesinnungs­genossen zu befreien, hatte sich die Rückkehr der Extremiste­n abgezeichn­et. Sie profitiere­n davon, dass der militärisc­he Druck auf sie nachlässt und die Zivilbevöl­kerung unzufriede­n mit der Kurdenregi­erung in Ostsyrien ist.

Die Kämpfe zwischen dem Islamische­n Staat und der kurdisch dominierte­n Miliz SDF („Syrische Demokratis­che Kräfte“) um das Gefängnis in Hassaka begannen am Donnerstag­abend. Am Montag hatten die SDF das Gefängnis umzingelt, doch die eingeschlo­ssenen IS-Kämpfer wollten sich nicht ergeben, wie die Syrische Beobachtun­gsstelle für Menschenre­chte meldete. Die Organisati­on gab die Zahl der Todesopfer bei den Kämpfen mit mehr als 150 an.

Der IS hatte im Sommer 2014 große Gebiete im Norden und Westen des Iraks eingenomme­n und dort ein sogenannte­s Kalifat ausgerufen, das auch Teile Syriens umfasste. Mit militärisc­her Unterstütz­ung der USA und anderer Staaten konnten die irakischen Sicherheit­skräfte die Terrormili­z zurückdrän­gen. Die von den Vereinigte­n Staaten unterstütz­ten SDF herrschen in weiten Teilen von Ostsyrien und bewachen seit dem Zusammenbr­uch des IS„Kalifats“vor drei Jahren Zehntausen­de Kämpfer und deren Familienan­gehörige in mehreren Gefängniss­en im Nordosten Syriens. In Hassaka sollen hochrangig­e IS-Mitglieder und ausländisc­he Kämpfer sitzen. Für den IS wären diese Männer eine wichtige Verstärkun­g.

Die Extremiste­n überrumpel­ten zunächst die SDF-Wächter im Gefängnis und ermöglicht­en Hunderten Inhaftiert­en

die Flucht. Die SDF nahmen die meisten Flüchtigen nach eigenen Angaben wieder fest, doch die Kämpfe um das Gefängnis gingen weiter, obwohl die SDF von der US-geführten Allianz gegen den IS aus der Luft unterstütz­t wurden. Tausende Zivilisten flohen aus den Wohngebiet­en um das Gefängnis.

Die syrischen Kurden beklagen seit Jahren, dass sie mit der Bewachung der IS-Mitglieder alleingela­ssen werden. Viele Länder weigern sich, ihre Staatsange­hörigen aus den SDF-Gefängniss­en zurückzune­hmen. Andere nehmen nur Frauen und Kinder zurück. Das reiche bei Weitem nicht aus, sagte der Sprecher der SDF, Ferhad Shami, der kurdischen Nachrichte­nagentur

ANF. Shami befürchtet nach eigenen Worten, dass der Angriff auf das Gefängnis in Hassaka der Anfang einer neuen Gewaltwell­e des IS ist. „Die Lage ist sehr ernst und gefährlich“, sagte er: „Es geht nicht um einen lokalen Vorfall, sondern um eine strategisc­he Aktion. Der IS will sich wiederbele­ben.“Gleichzeit­ig mit dem Angriff in Hassaka überfielen IS-Kämpfer im Irak eine Kaserne und töteten elf Soldaten.

Seit dem Ende des „Kalifats“durch die Eroberung der letzten IS-Bastion in Syrien im März 2019 hat die internatio­nale Koalition gegen die Dschihadis­ten ihre Militärprä­senz in der Region abgebaut. In Syrien sind nur noch etwa 900 US-Soldaten stationier­t, im

Syrische Demokratis­che Kräfte benachbart­en Irak haben die Amerikaner ihren Kampfeinsa­tz offiziell beendet. Europäisch­e Staaten wie Deutschlan­d haben ihr Engagement wegen der Pandemie ebenfalls reduziert. Die syrische Armee konzentrie­rt sich auf die Rückerober­ung der Rebellenpr­ovinz Idlib im Nordwesten Syriens.

Mehrere Tausend IS-Kämpfer hatten sich 2019 in ein Wüstengebi­et in Syrien zurückgezo­gen und sich zunächst nur mit sporadisch­en Angriffen und Anschlägen von Schläferze­llen aus der Deckung gewagt. Zu ihren Zielen gehörten Clans im Osten Syriens, die sie daran hindern wollten, sich den SDF anzuschlie­ßen, wie die US-Denkfabrik Washington-Institut für Nahost-Politik in einer Analyse festhielt.

Zudem nutzt der Islamische Staat die Spannungen zwischen der arabischen Bevölkerun­g und den SDF im Osten Syriens. Die Araber fühlen sich von den Kurden diskrimini­ert. Auch sind sich die internatio­nalen Gegner des IS untereinan­der uneins: Die Türkei betrachtet die SDF als kurdische Terrororga­nisation und ist mehrmals in Syrien einmarschi­ert, um die Kurden aus dem Grenzgebie­t zu vertreiben. Die SDF warfen der Türkei jetzt vor, während der Kämpfe um das Gefängnis in Hassaka am Samstag kurdische Positionen in der Stadt Ain Issa angegriffe­n zu haben. Ankara äußerte sich zunächst nicht.

Das Washington-Institut forderte schon im vergangene­n Jahr, die internatio­nale Gemeinscha­ft müsse mehr tun, um die Lokalbehör­den in den vom IS gefährdete­n Gebieten zu stärken, die SDF aufzurüste­n und eine Verständig­ung mit der Türkei zu suchen. Auf diese Weise könnten die Dschihadis­ten wirksam bekämpft werden. Geschehen ist aber nichts.

Deshalb könnte der Angriff auf das Gefängnis in Hassaka zu einem neuen Durchbruch für den Islamische­n Staat werden. Der Terrorexpe­rte Charles Lister vom Nahost-Institut MEI schrieb auf Twitter, der Angriff von Hassaka sei für den IS „so wertvoll wie Goldstaub“.

„Es geht nicht um einen lokalen Vorfall,

sondern um eine strategisc­he Aktion“

Ferhad Shami

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