Der IS meldet sich zurück
Der Angriff auf ein Gefängnis im Nordosten Syriens ist die schlimmste Attacke der Terrormiliz seit Jahren. Die Gegend steht für den Westen nicht mehr im Zentrum des Interesses – aber dort braut sich neues Unheil zusammen.
Der schwerste Angriff des Islamischen Staates seit dem Ende seines sogenannten Kalifats vor mittlerweile drei Jahren kam nicht aus heiterem Himmel. Schon lange bevor IS-Trupps mit Autobomben und schweren Maschinengewehren zum Sturm auf das Gefängnis der nordostsyrischen Stadt Hassaka ansetzten, um Tausende Gesinnungsgenossen zu befreien, hatte sich die Rückkehr der Extremisten abgezeichnet. Sie profitieren davon, dass der militärische Druck auf sie nachlässt und die Zivilbevölkerung unzufrieden mit der Kurdenregierung in Ostsyrien ist.
Die Kämpfe zwischen dem Islamischen Staat und der kurdisch dominierten Miliz SDF („Syrische Demokratische Kräfte“) um das Gefängnis in Hassaka begannen am Donnerstagabend. Am Montag hatten die SDF das Gefängnis umzingelt, doch die eingeschlossenen IS-Kämpfer wollten sich nicht ergeben, wie die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte meldete. Die Organisation gab die Zahl der Todesopfer bei den Kämpfen mit mehr als 150 an.
Der IS hatte im Sommer 2014 große Gebiete im Norden und Westen des Iraks eingenommen und dort ein sogenanntes Kalifat ausgerufen, das auch Teile Syriens umfasste. Mit militärischer Unterstützung der USA und anderer Staaten konnten die irakischen Sicherheitskräfte die Terrormiliz zurückdrängen. Die von den Vereinigten Staaten unterstützten SDF herrschen in weiten Teilen von Ostsyrien und bewachen seit dem Zusammenbruch des IS„Kalifats“vor drei Jahren Zehntausende Kämpfer und deren Familienangehörige in mehreren Gefängnissen im Nordosten Syriens. In Hassaka sollen hochrangige IS-Mitglieder und ausländische Kämpfer sitzen. Für den IS wären diese Männer eine wichtige Verstärkung.
Die Extremisten überrumpelten zunächst die SDF-Wächter im Gefängnis und ermöglichten Hunderten Inhaftierten
die Flucht. Die SDF nahmen die meisten Flüchtigen nach eigenen Angaben wieder fest, doch die Kämpfe um das Gefängnis gingen weiter, obwohl die SDF von der US-geführten Allianz gegen den IS aus der Luft unterstützt wurden. Tausende Zivilisten flohen aus den Wohngebieten um das Gefängnis.
Die syrischen Kurden beklagen seit Jahren, dass sie mit der Bewachung der IS-Mitglieder alleingelassen werden. Viele Länder weigern sich, ihre Staatsangehörigen aus den SDF-Gefängnissen zurückzunehmen. Andere nehmen nur Frauen und Kinder zurück. Das reiche bei Weitem nicht aus, sagte der Sprecher der SDF, Ferhad Shami, der kurdischen Nachrichtenagentur
ANF. Shami befürchtet nach eigenen Worten, dass der Angriff auf das Gefängnis in Hassaka der Anfang einer neuen Gewaltwelle des IS ist. „Die Lage ist sehr ernst und gefährlich“, sagte er: „Es geht nicht um einen lokalen Vorfall, sondern um eine strategische Aktion. Der IS will sich wiederbeleben.“Gleichzeitig mit dem Angriff in Hassaka überfielen IS-Kämpfer im Irak eine Kaserne und töteten elf Soldaten.
Seit dem Ende des „Kalifats“durch die Eroberung der letzten IS-Bastion in Syrien im März 2019 hat die internationale Koalition gegen die Dschihadisten ihre Militärpräsenz in der Region abgebaut. In Syrien sind nur noch etwa 900 US-Soldaten stationiert, im
Syrische Demokratische Kräfte benachbarten Irak haben die Amerikaner ihren Kampfeinsatz offiziell beendet. Europäische Staaten wie Deutschland haben ihr Engagement wegen der Pandemie ebenfalls reduziert. Die syrische Armee konzentriert sich auf die Rückeroberung der Rebellenprovinz Idlib im Nordwesten Syriens.
Mehrere Tausend IS-Kämpfer hatten sich 2019 in ein Wüstengebiet in Syrien zurückgezogen und sich zunächst nur mit sporadischen Angriffen und Anschlägen von Schläferzellen aus der Deckung gewagt. Zu ihren Zielen gehörten Clans im Osten Syriens, die sie daran hindern wollten, sich den SDF anzuschließen, wie die US-Denkfabrik Washington-Institut für Nahost-Politik in einer Analyse festhielt.
Zudem nutzt der Islamische Staat die Spannungen zwischen der arabischen Bevölkerung und den SDF im Osten Syriens. Die Araber fühlen sich von den Kurden diskriminiert. Auch sind sich die internationalen Gegner des IS untereinander uneins: Die Türkei betrachtet die SDF als kurdische Terrororganisation und ist mehrmals in Syrien einmarschiert, um die Kurden aus dem Grenzgebiet zu vertreiben. Die SDF warfen der Türkei jetzt vor, während der Kämpfe um das Gefängnis in Hassaka am Samstag kurdische Positionen in der Stadt Ain Issa angegriffen zu haben. Ankara äußerte sich zunächst nicht.
Das Washington-Institut forderte schon im vergangenen Jahr, die internationale Gemeinschaft müsse mehr tun, um die Lokalbehörden in den vom IS gefährdeten Gebieten zu stärken, die SDF aufzurüsten und eine Verständigung mit der Türkei zu suchen. Auf diese Weise könnten die Dschihadisten wirksam bekämpft werden. Geschehen ist aber nichts.
Deshalb könnte der Angriff auf das Gefängnis in Hassaka zu einem neuen Durchbruch für den Islamischen Staat werden. Der Terrorexperte Charles Lister vom Nahost-Institut MEI schrieb auf Twitter, der Angriff von Hassaka sei für den IS „so wertvoll wie Goldstaub“.
„Es geht nicht um einen lokalen Vorfall,
sondern um eine strategische Aktion“
Ferhad Shami