Rheinische Post Mettmann

Draghi oder nicht Draghi?

Italiens zerstritte­ne Parteien suchen einen neuen Staatspräs­identen.

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

ROM In Italien ist eine neue politische Phase angebroche­n. Im Palazzo Montecitor­io, auf dem ehemaligen Marsfeld, kommen seit Montag die 1009 Delegierte­n zusammen, um den nächsten italienisc­hen Staatspräs­identen zu wählen. Sergio Mattarella ist nur noch bis zum 3. Februar im Amt. Im vergangene­n Februar, nach dem Rücktritt von Ministerpr­äsident Giuseppe Conte, nominierte der Staatspräs­ident den ehemaligen Chef der Europäisch­en Zentralban­k, Mario Draghi, als Nachfolger. Der versammelt­e fast alle Parteien in einer Regierung, das Staatsober­haupt hatte den 74-Jährigen vorgeschla­gen. In politische­n Krisen, und die gibt es im italienisc­hen Politikbet­rieb zuhauf, ist der Staatspräs­ident entscheide­nd.

Der besonnene und vertrauens­würdige Christdemo­krat Mattarella wirkte in seiner Amtszeit wie eine perfekte Verkörperu­ng des Staatsober­haupts. Krisensitu­ationen löste er souverän und mit ruhiger Hand. Dazu gehörte etwa auch das erste Mandat für Giuseppe Conte, dessen Fünf-Sterne-Bewegung ab 2018 zusammen mit der Lega regierte. Mattarella, das pfiffen die Spatzen in Rom damals von den Dächern, schaltete sich intensiv in die Regierungs­bildung ein. Aggressive­n Europaskep­tikern und Anti-Euro-Politikern soll er Regierungs­ämter verweigert haben. So weit reicht der informelle Einfluss des italienisc­hen Staatsober­haupts.

Dass der Medienmogu­l Silvio Berlusconi am Wochenende auf seine Kandidatur verzichtet­e, sorgte in Italien überwiegen­d für Erleichter­ung. Der 85-Jährige Skandal-Politiker

und verurteilt­e Steuerbetr­üger hatte sich selbst als Kandidat für das höchste Staatsamt ins Spiel gebracht. „Ich habe entschiede­n, einen anderen Pfad einzuschla­gen auf dem Weg der nationalen Verantwort­ung, und bitte darum zu verzichten, meinen Namen als Präsident der Republik vorzuschla­gen“, ließ Berlusconi am Samstag wissen. Dabei wusste alle Welt: Der Ex-Cavaliere hätte wohl nicht genügend Stimmen zusammenbe­kommen.

Zur Wahl versammeln sich 630 Abgeordnet­e, 315 Senatoren, sechs Senatoren auf Lebenszeit sowie 58 Delegierte der Regionen, insgesamt 1009 Personen. In den ersten drei Wahlgängen ist eine Zweidritte­lmehrheit notwendig, ab dem vierten Wahlgang genügt die absolute Mehrheit. Seit Sonntag läuft die Suche nach einem geeigneten Kandidaten auf Hochtouren. Normalerwe­ise wird eine parteiüber­greifend anerkannte Persönlich­keit gewählt, noch nie war es eine Frau. Der sozusagen natürliche Kandidat für die Nachfolge Mattarella­s wäre Regierungs­chef Mario Draghi. Doch der Wechsel des 74-Jährigen vom Palazzo Chigi hinauf in den Amtssitz des Staatspräs­identen am Quirinal hätte schwerwieg­ende Folgen. Draghi könnte dann zwar sieben Jahre lang Italien mit Weitsicht in Krisensitu­ationen führen. Wer aber würde im Februar seine Nachfolge als Regierungs­chef antreten?

Italien erholt sich gerade von

Mario Draghi einem schweren Konjunktur­einbruch, die 191 Milliarden Euro umfassende­n Corona-EU-Hilfen sind verantwort­ungsvoll zu investiere­n, zahlreiche Reformproj­ekte auf den Weg gebracht. Dem ehemaligen EZB-Chef gelingt es, seine Rechte und Linke umfassende Vielpartei­enregierun­g zusammenzu­halten, anderen Politikern wird das nicht zugetraut. Draghis Wechsel ins Amt des Staatspräs­identen birgt also große Risiken. 2023 endet zudem die Legislatur, es stehen Parlaments­wahlen an. Die Parteien werden schon bald in den Wahlkampfm­odus umschalten, die rechte Lega sowie die postfaschi­stischen Fratelli d`Italia, die derzeit zusammen auf rund 40 Prozent der Wählerstim­men kämen, spekuliere­n sogar auf vorgezogen­e Neuwahlen, sobald Draghi die Regierung verlässt.

Wer könnte statt Draghi Staatspräs­ident werden? Italiens Rechte verfügt in der Wahlversam­mlung nominell über 450 Stimmen und könnte, wenn sie denn einig wäre, einen Kandidaten lancieren. Doch Kandidatin­nen wie Mailands frühere Bürgermeis­terin Letizia Moratti oder die berlusconi­treue Senatspräs­identin Elisabetta Casellati sind der Linken nicht vermittelb­ar. Der sozialisti­sche Ex-Regierungs­chef und heutige Verfassung­srichter Giuliano Amato wird immer wieder genannt; die besten Chancen soll derzeit Pierferdin­ando Casini haben, 66 Jahre alt, aus Bologna, ein liberaler Christdemo­krat.

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FOTO: AP

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