„Wenn andere Ursachen auszuschließen sind, muss man an ein Krebsleiden denken“
Zu den auffälligen Erscheinungsformen der hochansteckenden Corona-Variante zählt nächtliches Schwitzen. Manchmal werden Ärzte bei diesem Symptom aber besonders hellhörig.
Neulich sagte ein Arzt, es gebe kaum ein Organ, das dem Coronavirus nicht zum Opfer falle. Es klang ein bisschen wie die Geschichte vom gefräßigen Eindringling, die jedenfalls bei SarsCov-2 so gar nicht stimmt.
Das Virus beherrscht vielmehr die Kunst, dass der menschliche Körper gegen sich selbst arbeitet und sein Immunsystem zu dermaßen überschießenden Abwehrmaßnahmen animiert, dass unter diesem Sturm der Botenstoffe auch eigene Organsysteme in Mitleidenschaft gezogen werden. Das ist bei schweren CovidVerläufen sozusagen das Begleitkino zu den Lungenschäden, die zu den Haupterscheinungsbildern zählen und eine Beatmung erfordern.
Nun gibt es jenseits der schweren Verläufe solche, die ganz mild oder gar symptomlos sind. Dabei sind zwei Aspekte diskussionswürdig. Wie dehnbar ist „mild“? Und ist ein symptomlos Infizierter überhaupt ein Patient – oder nur ein Fall auf der Positivseite der RKI-Statistik?
Andererseits haben die „milden“Seiten jeder Corona-Infektion seit Pandemiebeginn sehr unterschiedliche Ausprägungen genommen, sehr oft begannen die schweren Verläufe eben ja auch „mild“. Neu bei der Omikron-Variante sind zwei ungewöhnliche Symptome: Appetitlosigkeit und Nachtschweiß. Beide sind Ausdruck einer Ermattung des Körpers. Doch der Nachtschweiß zeigt auch an, dass es sich um einen Kampf gegen einen Erreger handelt, weil er in den meisten Fällen auch mit Fieber verbunden ist.
„Schwitzen ist etwas sehr Menschliches“, sagt Stefan Gründer, der das Institut für Physiologie an der Uniklinik RWTH Aachen leitet: „Nur wenige Säugetiere haben so viele Schweißdrüsen wie der Mensch. Der primäre Zweck des Schwitzens ist die Temperaturkontrolle – die Verdunstung von Wasser beim Schwitzen verbraucht Energie und hilft uns so, überschüssige Wärme abzugeben.“Das geschehe automatisch: „Die Aktivität der Schweißdrüsen wird durch das vegetative Nervensystem gesteuert, vor allem durch den sogenannten Sympathikus, und entzieht sich unserer willentlichen Kontrolle.“Man kann nicht mit Absicht schwitzen.
Die mehr als eine Million Schweißdrüsen des Menschen könnten kurzzeitig bis zu zwei Liter Schweiß pro Stunde produzieren, weiß Gründer. „Normalerweise ist dieser Prozess gut reguliert, und so viel Schweiß wird nur produziert, wenn auch tatsächlich viel Wärme abgegeben werden muss, etwa bei körperlicher Arbeit in der Wüste.“Manchmal sei die Schweißproduktion aber auch nicht mehr reguliert, bei extremen Fällen spricht man von Hyperhidrose: „Bei einer sekundären Hyperhidrose ist die überschüssige Schweißproduktion nur Folge einer anderen Störung. Ein Beispiel ist das Klimakterium der Frau mit seinen Hitzewallungen.“
Nun ist Nachtschweiß im Auge und Körpergefühl des Betrachters eine weitgefächerte Erscheinung. Deshalb mahnt Stefan Wilm, der das Institut für Allgemeinmedizin am Universitätsklinikum Düsseldorf leitet: „Man muss einen Patienten schon genau fragen, was er selbst darunter versteht.“Ist ihm nur ein bisschen feucht und schwitzig am Nacken, oder sind Schlafanzug und Bettlaken so durchnässt, dass alles gewechselt werden muss?“Dieses Kriterium erfüllten nämlich nur sehr wenige Menschen, die in seiner Praxis vor ihm säßen, sagt Wilm. In gar nicht wenigen Fällen sei man im Bett zu warm angezogen, oder es mangele im Schlafzimmer an Belüftung.
Wer Doktor Google befragt, bekommt zahllose mögliche Diagnosen gestellt, die in der ärztlichen Praxis möglicherweise allenfalls Raritäten sind. Johannes Grossmann, Chefarzt am Johanniter-Krankenhaus in Mönchengladbach, berichtet, dass er Nachtschweiß etwa im Zusammenhang mit einer Pankreas-Insuffizienz (eingeschränkt arbeitenden Bauchspeicheldrüse) bei Patienten „noch nie erlebt“habe. Hingegen komme Nachtschweiß bei einer schweren Infektion durchaus häufig vor, sagt Internist Grossmann. Immer müsse man fragen: „Hat der Patient Fieber? Hat er Schüttelfrost?“Wilm ergänzt: „Wer je Pfeiffersches Drüsenfieber gehabt hat, der wird in vielen Fällen auch nachts sehr stark geschwitzt haben.“
Überhaupt Infektionskrankheiten: „Die sind oft mit Fieber verbunden. Und dann auch mit
Nachtschweiß.“Wie bei der Omikron-Variante. Der Radius ist jedoch nicht so eng, wie man glaubt. Grossmann sagt: „Als Arzt schaue ich mir natürlich die Laborwerte eines Patienten an, der über häufigen Schweiß klagt. Vielleicht handelt es sich um eine Überfunktion der Schilddrüse oder um komplizierte Autoimmunerkrankungen. „Oder es ist eine Entgleisung der Zuckerwerte, etwa eine Unterzuckerung. Dann bildet sich fast immer kalter Schweiß.“Ganz zu schweigen von emotionalen Krisen, etwa Liebesschmerz oder Prüfungsstress, oder nach Alkohol- oder Zigarettenkonsum: Auch hier sei Nachtschweiß nicht selten. Grossmann: „Jeder von uns kennt diese Examensphasenzeiten, da man nachts schweißgebadet aufwacht.“Auch Medikamente, etwa Neuroleptika und Antidepressiva, können für eine gewisse Zeit Nachtschweiß auslösen, „meistens unmittelbar nach der Erstverordnung“, so Wilm.
Chefarzt Kliniken Maria Hilf
Wenn Wilm seine Patienten nach der Intensität und der Dauer der Nachtschweiß-Symptome fragt und dann bestimmte Antworten bekommt, die ihn stutzig machen, wird er hellhörig. Dann ist weitere Diagnostik angesagt. „Solche Fälle muss man auf jeden Fall genauer abklären“, rät auch Ullrich Graeven, Chefarzt an den Kliniken Maria Hilf in Mönchengladbach. Der Onkologe weiß, dass Nachtschweiß zu den sogenannten B-Symptomen einer Tumorerkrankung zählen kann. „Wenn der Nachtschweiß nämlich über längere Zeit anhält und andere Ursachen auszuschließen sind, dann muss man – zumal wenn auch noch unerklärlich starker Gewichtsverlust und Fieber hinzutreten – an ein Krebsleiden denken.“Bei Kindern seien solche Fälle sehr selten, sagt Graeven, „bei Jugendlichen mit auffälligem Nachtschweiß muss man aber an ein Lymphom denken.“Dann gibt es keine Alternative: „Dann muss man sehr genaue Diagnostik betreiben.“
Wenn der Patient, der in der Arztpraxis vorspricht, aber nur ab und zu nachts schwitzt, „dann lehne ich mich entspannt zurück“, berichtet der Allgemeinmediziner Wilm. Vor allem, wenn es sonst keine weiteren Symptome gebe. Er stellt fest: „Manchmal war es abends wirklich nur ein starker Espresso, der Stunden später reinhaut.“Trotzdem, fragen müsse man immer genau, denn es gebe ja Krankheiten, auf die man auf den ersten Blick nicht kommt. Solche Fälle erlebt er als Arzt selten, erklärt Wilm: „Aber manchmal ist es eben doch Tuberkulose.“Momentan ist es vor allem die Omikron-Variante des Coronavirus.
Ullrich Graeven