Im Osten nichts Neues
Armee und Politik in der Ukraine streiten über eine neue Mobilisierung, um die Soldaten zu entlasten. Doch deren Frauen haben genug. Überall im Land gehen sie auf die Straße, um zu protestieren.
Nicht jeder ist ein Krieger. Wolodomyr Kovolenko ist es nicht. Der Mann in den Vierzigern heißt in Wirklichkeit anders. Er ist vorsichtig geworden. Hinter jeder Ecke, im Bus oder in der Metro könnten Männer der Einberufungszentren lauern, um ihm seinen Mobilisierungsbescheid in die Hand zu drücken, fürchtet er. In der Hauptstadt käme das zum Glück seltener vor als auf dem Land. „Einer meiner Freunde lebt in einer Kleinstadt. Er hat seine Wohnung seit einem halben Jahr nicht verlassen“, sagt er.
Kovolenko hat sich an einer Universität eingeschrieben. Wer studiert, wird derzeit nicht einberufen in der Ukraine. Er hat sich von Ärzten ein Attest über seinen Bluthochdruck ausstellen lassen. Er würde alles tun, was legal ist, um den Dienst in der Armee zu vermeiden. Seine Begründung klingt so simpel wie nachvollziehbar. „Ich hätte gerne ein langes Leben“, sagt er. Was ist aber mit den Hunderttausenden Soldaten, die das ihre gerade riskieren, damit Kovolenkos Land nicht den Krieg verliert? Der Mann antwortet ausweichend: „Erst einmal sollte das Recht bei uns eingehalten werden. Wie können diese Leute von den Einberufungsbehörden einfach Männer auf der Straße anhalten, um sie einzuziehen? Jemanden kontrollieren darf nur die Polizei“, sagt er.
Die ukrainische Armee preschte wenige Wochen vor dem Jahreswechsel mit der Forderung vor, bis zu einer halben Million neuer Soldaten einzuberufen. Im Prinzip kann jeder männliche Ukrainer zwischen 18 und 60 Jahren in die Kaserne gerufen werden. Nur mit frischen Kräften seien Hunderttausende Erschöpfte zu ersetzen, die seit dem Beginn des Krieges ununterbrochen im Einsatz sind, argumentierten die Generäle. Präsident Wolodymyr Selenskyj reagierte zurückhaltend auf die Forderung nach einer Masseneinberufung. Er erklärte zunächst, er halte eine „sofortige Mobilisierung“so vieler Männer für unnötig. Selenskyj soll sich wieder einmal geärgert haben über seinen forschen Militärchef Walerij Saluschnyj, den er vor Kurzem entlassen hat – ein Schritt, der erneut zu Unruhe im Land führte.
Das Regierungskabinett hatte dem ukrainischen Parlament einen Vorschlag für ein neues Mobilisierungsgesetz vor, um den Streit mit der Armee zu schlichten. Es sollte Möglichkeiten einschränken, vom Dienst an der Waffe freigestellt zu werden, und sieht höhere Strafen für Männer vor, die sich mit Tricks vor dem Kriegsdienst drücken wollen. Unter anderem sollte ihr Besitz beschlagnahmt werden können. Der Kriegsdienst sollte zum ersten Mal auf einen bestimmten Zeitraum beschränkt werden. Von 36 Monaten ist die Rede. Die Abgeordneten zerpflückten den Plan der Regierung gnadenlos. Die vorgeschlagenen Verschärfungen für Wehrunwillige seien verfassungswidrig, kritisierte die Opposition. Medienberichte beunruhigen derweil die Öffentlichkeit. Es kursieren Videoclips von Polizeieinheiten, die jungen Männern zur Arbeit, zum Sport oder in die Kneipe folgen, um ihnen die Einberufung in die Hand zu drücken. Viele hätten die mit der Post verschickten Bescheide einfach ignoriert, begründeten die Behörden die Aktionen.
Unterdessen demonstrieren etwa 100 Ehefrauen von Soldaten vor der schlanken Säule des Unabhängigkeitsdenkmals auf dem Maidan-Platz in der Hauptstadt Kiew. Sie würden Männern wie Kovalenko wohl die Meinung geigen. Sie wollen ihre Ehemänner zurück, endlich, nach zwei Jahren Krieg. Andere
sollen sie an der Front ersetzen. Die 37-jährige Alona Stanowa hält ein Plakat in den Händen. Das Wort „Demobilisierung!“ist darauf mit roten Buchstaben zu lesen. Ihr neunjähriger Sohn Andrii kuschelt sich an die Mutter. Eine der Soldatenfrauen spricht mit der blaugelben ukrainischen Fahne über den Schultern durch ein Megafon. „Bis jetzt waren wir geduldig. Aber Mädels, wir können auch anders“, droht sie. Die Menge johlt.
Der Streit zwischen Politikern und der Armee um eine neue Mobilisierung kommt hier nicht gut an. Das vorgeschlagene Gesetz sei zu wenig und komme zu spät, sagt Alona Stanowa. Während die Mühlen der Gesetzgebung langsam mahlen, kämpfen die müden Soldaten weiter. Im Osten nichts Neues, Soldatenfrauen wie Alona Stanowa wollen das nicht mehr hinnehmen. Noch sind es überschaubare Gruppen von Ehefrauen, die sich lose in den sozialen Netzwerken zu Kundgebungen gegen die Regierung verabreden. Aber ihre Proteste wachsen im ganzen Land wie Pilze aus dem Boden.
Alona Stanowa wartet jeden Abend auf Nachrichten aus Awdijiwka. Ihr Mann hat sich zu Kriegsbeginn freiwillig zur Armee gemeldet. Er hat in den zerbombten Häuserzeilen der Industriestadt im Donbass gekämpft, aus der sich die Ukrainer im Februar zurückzogen. Sie habe manchmal einen Videoanruf von ihrem Mann bekommen, manchmal tippe er nur ein paar Worte als Lebenszeichen. Ihr Sohn kenne seinen Vater nur noch als wackeliges Bild auf dem Smartphone. Er sieht einen Mann, der kaum wiederzuerkennen sei. „Mein Mann ist furchtbar gealtert in den zwei Jahren. Und es liegt etwas in seinen Augen. Ich kann das nicht einmal beschreiben“, sagt seine Frau. Sie empört sich über die Vorschläge der Regierung. Nach 18 Monaten an der Front müsse spätestens Schluss sein für die Soldaten, fordert sie. Menschen steckten in den Uniformen, keine Maschinen.
Im Parlament kursiert auch die Idee, Unternehmen künftig gegen eine Zahlung die Freistellung ihrer Mitarbeiter vom Kriegsdienst zu ermöglichen. Hintergrund sind Befürchtungen, der Wirtschaft könnte bei einer neuen Mobilisierung das Personal ausgehen. Die Soldatenfrau erkennt die Zwickmühle nicht, von der Experten sprechen. Sie denkt an ihren Mann und seine Kameraden. „Am Ende führen die einfachen Leute Krieg, und wer einen guten Job hat, ist aus dem Schneider“, sagt Stanowa.
Die Autorin und Filmregisseurin Iryna Tsilyk macht sich in einem Café unweit des Goldenen Tores in Kiew Gedanken über die Spaltung, die im dritten Kriegswinter in der ukrainischen Gesellschaft sichtbar wird. Sie sei in der Debatte um eine neue Mobilisierung hin- und her gerissen, sagt Tsilyk. Aggressivere Methoden, mehr Männer in die Kasernen zu treiben, seien mit der Demokratie nicht vereinbar, findet sie. „Auf der anderen Seite sind wir im Krieg. Irgendwer muss uns verteidigen“, sagt sie.
Die Autorin ist selbst Soldatenfrau. Sie ist mit dem Schriftsteller Artem Tschech verheiratet. Er kämpfte bereits vor der russischen Invasion 2022 im Donbasskrieg gegen die prorussischen Separatisten. Tschech entkam im Frühjahr 2023 aus Bachmut. Er und seine Einheit harrten tagelang ohne Nahrung, Munition und mit zur Neige gehendem Trinkwasser in ihrer umzingelten Stellung aus. Sie hatten sich bereits von ihrem Leben verabschiedet, erzählt Tsilyk. Dann brach ein Starkregen los und brachte die Geschütze für einen Moment zum Schweigen. Ihrem Mann und seinen Kameraden gelang die Flucht.
Das Wesen ihres Mannes sei seit der Rückkehr aus Bachmut verändert. Er habe keine Zeile mehr geschrieben. Depressionen verdüsterten seinen Alltag. Sie versucht, in einem Satz zu beschreiben, was sich unüberwindbar zwischen das Paar gestellt hat: „Artem hat etwas Existenzielles erlebt. Wir teilen nicht mehr den gleichen Erfahrungshorizont.“Wie ihr und ihrem Mann gehe es vielen Paaren. „Viele Ehen zerbrechen daran“, sagt sie. Tsilyk kann die Wut der demonstrierenden Soldatenfrauen verstehen. Denn jeder Tag an der Front vertiefe die Kluft.
Die langatmige Diskussion, wie weit der Staat im Krieg in die Rechte der Bürger eingreifen darf, wertet die Autorin trotz aller Unsicherheit für ihre eigene Lage als Zeichen des Fortschritts. Das Denken der Sowjetzeit mit seinem Heldenkult und dem Ideal der Aufopferung für das Kollektiv sei in der Ukraine verblasst. „Wir haben uns als Gesellschaft in eine andere Richtung entwickelt. Jetzt zählt jedes Leben, und deshalb ist die Debatte so schwierig“, sagt sie.
Die russische Führung muss hingegen keine sozialen Proteste für oder gegen eine neue Mobilisierung fürchten oder mühselig um die Unterstützung des Parlaments für eine weitere Einberufungswelle werben. Sind der Einzug von Postmoderne und Demokratie in der Ukraine im Krieg mit Russland nun ein Nachteil? Der militärische Geist sei wieder stärker geworden in der Gesellschaft, sagt die Autorin.
An der Lösung für den Personalbedarf der Armee wird am MaidanPlatz gearbeitet. Der Gründer der Rekrutierungsfirma Lobby X, Wladyslaw Hrezjew, öffnet die Homepage. Auf der Website finden sich offene Positionen verschiedener Einheiten von der Cyberabwehr bis hin zur Luftwaffe. Lobby X sammelt die Bewerbungen und leitet sie an die Kommandeure weiter. Die Brigadechefs suchen passende Kandidaten aus und laden diese zu Gesprächen ein. Lobby X schult Kommandeure darin, Bewerbungsgespräche zu führen. Knapp 3000 offene Stellen bei verschiedenen Brigaden seien bisher mithilfe der Plattform besetzt worden. Das ist nur ein Bruchteil der von der Armee geforderten 500.000 neuen Soldaten. Aber laut der Firma sind bisher knapp 70.000 Bewerbungen eingegangen.
Lobby X will den Spieß bei der Einberufung umdrehen. Die Wehrpflichtigen treten auf die Armee zu, statt von ihr per Einberufungsbescheid zum Dienst verpflichtet zu werden. Sie sollen sich Tätigkeit und Dienstort aussuchen können, indem sie sich für eine Position bei einer bestimmten Einheit bewerben. „Das gibt ein Gefühl der Kontrolle zurück“, sagt Hrezjew. Das Verfahren soll auch die Reform der Streitkräfte beflügeln, erklärt Hrezjew. Je besser eine Einheit geführt werde, desto attraktiver werde sie bei Bewerbern sein, so die Rechnung.
Kateryna Prymiak hat die Soldaten im Schützengraben erlebt, die mit ihrer Kraft am Ende sind. Sie half als Rettungsassistentin an der Front. Bei einigen Soldaten fiel ihr auf, dass sie selbst simpelste Sicherheitsvorschriften missachteten. „Sie verließen zum Beispiel ihre Stellungen ohne Weste. Das ist lebensmüde“, sagt sie. Sie rätsele bis heute, ob die Unvorsichtigen wirklich sterben wollten oder ob ihr Überlebensinstinkt im Dauerstress irgendwann eingeknickt war.
Krieg zeichne jeden Soldaten körperlich und psychisch. „Normalerweise sollten sie sich nach drei bis fünf Tagen im Schützengraben für den gleichen Zeitraum ausruhen. Dann gehen sie in eine Stellung im Wald oder in einem verlassenen Haus, immer noch in Reichweite der Front“, sagt sie. Der Austausch gelinge aber nicht immer, weil Ersatz fehle.
Prymiak beklagt den Engpass an Soldaten, der Rotationen nicht zulässt. Aber Zwang bei einer neuen Mobilisierung lehnt sie ab. „Das spaltet unsere Gesellschaft“, sagt sie. Prymiak befürwortet offene Grenzen für Männer, die das Land verlassen wollen, statt zu kämpfen. „Was sollen wir mit Soldaten, die keine Motivation mitbringen?“, fragt sie. Sie empfiehlt der Armee, besser zu werden. „Wenn ich sehe, wie sie sich um Veteranen kümmern, kann ich verstehen, dass manche nicht Soldat werden wollen“, sagt sie.
Prymiak fällt noch ein Grund ein, warum sie zu viel Druck auf Wehrunwillige ablehnt: „Natürlich sagen die Soldaten, ihr Trauma ist das schlimmste. Aber wir sind alle traumatisiert. Und wenn dieser verdammte Mist einmal zu Ende geht, müssen wir irgendwie miteinander klarkommen.“
„Wir sind im Krieg. Irgendwer muss uns verteidigen“Iryna Tsilyk Autorin und Filmregisseurin