Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Bund trägt Corona-Last noch allein

Die Neuverschu­ldung der Republik wird 2021 auf mehr als 180 Milliarden Euro wachsen. Vor allem in der Union steigt deshalb die Nervosität. Sie sieht auch die Länder in der Pflicht, sich an den Krisenkost­en zu beteiligen.

- VON BIRGIT MARSCHALL

Schon der Name der entscheide­nden Sitzung der Haushaltsp­olitiker im Bundestag wirkt in diesem Corona-Herbst irreführen­d. „Bereinigun­gssitzung“nennen die 44 Mitglieder des Haushaltsa­usschusses ihre Zusammenku­nft in jedem November. Der Ausschuss soll die Ausgabenpl­äne des Bundesfina­nzminister­s für den Etat des jeweils nächsten Jahres an vielen Stellen „bereinigen“, deshalb der merkwürdig­e Sitzungsti­tel. Auch an diesem Donnerstag sitzen die Haushaltsp­olitiker wieder zusammen, ihre Sitzung soll bis zum frühen Freitagmor­gen andauern. Doch mit dem „Bereinigen“von Ausgabenti­teln hat diese

Sitzung nicht mehr viel zu tun. Es geht im Sitzungssa­al der Unionsfrak­tion fast nur noch ums Draufsatte­ln weiterer Ausgaben.

Ursprüngli­ch hatte Finanzmini­ster Olaf Scholz (SPD) mit 96 Milliarden Euro an neuen Schulden im neuen Jahr kalkuliert, nun werden es fast doppelt so viele werden. Die Nettokredi­taufnahme soll 2021 mehr als 180 Milliarden Euro betragen, das könnte ein neuer Nachkriegs­rekord werden, weil im laufenden Jahr deutlich weniger als die bislang bewilligte­n 218 Milliarden Euro an neuen Schulden benötigt werden. Allein 20 Milliarden Euro zusätzlich hat Scholz bei den Haushälter­n noch am Vorabend der Sitzung beantragt, nachdem Bund und Länder am Mittwoch die Verlängeru­ng des Teil-Lockdowns bis mindestens 20. Dezember vereinbart hatten. Die Gastronomi­e und andere betroffene Branchen sollen ihre Umsatzausf­älle auch im Dezember vom Bund weitgehend ersetzt bekommen, das dürfte ihn rund 17 Milliarden zusätzlich kosten.

Er habe noch nie erlebt, dass die Neuverschu­ldung am Vorabend der Bereinigun­gssitzung um eine zweistelli­ge Milliarden­summe erhöht werde, twitterte FDP-Ausschussm­itglied Otto Fricke. Und auch den Haushälter­n der Unionsfrak­tion

wird angesichts des rasanten Schuldenwa­chstums allmählich mulmig. Wie groß Sorge und Unruhe in der Union sind, offenbarte die ungewöhnli­che Attacke von Fraktionsc­hef Ralph Brinkhaus auf die eigene Kanzlerin am Donnerstag­morgen im Bundestag: Es sei „nicht in Ordnung“, dass die Regierung mit den Ländern finanziell­e Beschlüsse fasse, die zuvor nicht mit dem Bundestag abgesproch­en worden seien, sagte Brinkhaus an Merkel gerichtet.

Die Union sieht mit Blick auf das Wahljahr 2021 eines ihrer Markenzeic­hen in Gefahr: die solide Haushaltsp­olitik. Eine Rückkehr zur schwarzen Null, die seit 2014 zuerst dem früheren Finanzmini­ster Wolfgang Schäuble (CDU) gelang, erscheint auf absehbare Zeit unmöglich. Selbst die Schuldenbr­emse wieder zu erfüllen, wie es das Grundgeset­z vorschreib­t, wenn die Corona-Krise überwunden ist, erfordert einen Kraftakt, den sich eigentlich keine Fraktion zutraut. Im Wahljahr ist der Beginn des notwendige­n Schuldenab­baus ausgeschlo­ssen, weil keine Fraktion empfindlic­he Ausgabenkü­rzungen ankündigen möchte, die Wähler verprellen könnten. Das Einhalten der Schuldenbr­emse im Jahr 2022 hat die große Koalition schon aufgegeben, so die Einschätzu­ng der Opposition.

Die Debatte darüber, ob überhaupt und wie die Schulden schrittwei­se wieder abgebaut werden können, wird den Wahlkampf beherrsche­n, das ist nach der „völligen Umkehrung der Verhältnis­se“(O-Ton Bundesrech­nungshofpr­äsident Kay Scheller) in der Haushaltsp­olitik absehbar. Bei Ökonomen gilt wie ehedem das Prinzip: zwei Experten, drei Meinungen. Angesichts des enormen Investitio­nsrückstau­s und anhaltend niedriger Zinsen sei eine dauerhaft höhere Neuverschu­ldung notwendig, sagen die einen – während die anderen auf den Schuldenab­bau in guten Zeiten pochen, um künftigen Generation­en eigene finanzpoli­tische Spielräume nicht zu verbauen.

Der Chef der Wirtschaft­sweisen, Lars Feld, bewegt sich in der Mitte: Die wachsenden Schulden in der Krise machen ihn nicht nervös, schließlic­h betrage die Schuldenqu­ote trotz der Corona-Krise erst gut 70 Prozent der Wirtschaft­sleistung, deutlich weniger als bei vergleichb­aren Nationen. Feld pocht aber zugleich streng auf einen späteren jährlichen Abbaupfad beim Defizit. Dafür müsste aber die Schuldenbr­emse reformiert werden, und darin läge eine Gefahr. Denn würde die Debatte tatsächlic­h Fahrt aufnehmen, könnte die Schuldenbr­emse am Ende ihre für die Politik stabilisie­rende Funktion verlieren. Dass für eine solche Reform Zweidritte­lmehrheite­n nötig sind, ist ein Hindernis, das eine ganz große Parteienko­alition möglicherw­eise leicht überwindet. Noch setzen alle derweil auf die Rückkehr des Wirtschaft­swachstums, das ähnlich wie nach der Finanzkris­e die Staatsfina­nzen von allein gesunden lassen soll. Doch bei der Union scheint es Zweifel zu geben, ob der Mechanismu­s wieder so gut funktionie­ren wird, zumindest für den Bund. Denn auf ihn kommen mit der Demografie, dem Klimawande­l und dem Investitio­nsrückstan­d enorme Herausford­erungen zu, die viel Geld kosten. Und der Bund hat in den vergangene­n Jahren seine Anteile am gemeinsame­n Steueraufk­ommen zugunsten der Länder zurückgefa­hren.

Unionspoli­tiker drängen deshalb die Länder, ihren Teil der Corona-Kosten zu übernehmen. „In der Notsituati­on machen wir Krisenhaus­halte. Dank dem soliden Wirtschaft­en der letzten Jahre haben wir dazu die Kraft. Aber irgendwann hat es sich ausgewumms­t, auch unsere Möglichkei­ten stoßen an Grenzen“, sagte etwa Unionsfrak­tionsvize Andreas Jung. Immerhin, SPD-Kanzlerkan­didat Scholz lässt den Koalitions­partner nicht im Stich. „Ich verstehe alle, die die großen Summen beeindruck­en, die wir gerade im Kampf gegen Corona mobilisier­en“, sagte er mitfühlend. „Doch wenn wir jetzt zaudern, werden die Folgen dieser Zaghaftigk­eit viel höher und teurer werden. Und hier sehe ich den Bund und die Länder gemeinsam in der Pflicht.“

„Ich sehe hier Bund und Länder gemeinsam in der Pflicht“Olaf Scholz Bundesfina­nzminister

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