Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Corona-Leugner ziehen singend durch Hotspot Nummer eins
Hildburghausen in Thüringen kommt zu trauriger Berühmtheit. Der Bürgermeister reagiert fassungslos. Am Anfang stand eine Hochzeitsfeier.
BERLIN Mit Fassungslosigkeit und Entsetzen haben Politiker aller Ebenen auf einen abendlichen „Spaziergang“von rund 400 Menschen durch Hildburghausen im Süden Thüringens reagiert. Der Landkreis war bereits als Corona-Hotspot mit dem bundesweit einsamen Spitzenwert von über 600 Infizierten je 100.000 Einwohner in die Schlagzeilen gekommen. Mit strengsten Auflagen versuchen die Behörden das außer Kontrolle geratene Infektionsgeschehen wieder in den Griff zu bekommen. Doch Corona-Gefahren-Leugner trieben die Provokation nun auf die Spitze.
Während die Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten in einer Videokonferenz über verschärfte Auflagen beriet, versammelten sich am Mittwochabend Hunderte Menschen auf dem Marktplatz von Hildburghausen. Die Polizei registrierte, dass eine Vielzahl von ihnen weder das Abstandsgebot noch die Maskenpflicht befolgte. Ohnehin war wegen der explodierenden Infektionszahlen die Auflage an die Bevölkerung ergangen, ihre Häuser nur noch in Ausnahmefällen zu verlassen. Kitas und Schulen sind geschlossen.
All das war den Menschen offenkundig gleichgültig. In einem Video in den sozialen Netzwerken ist dokumentiert, wie sie zu Hunderten „Oh, wie ist das schön“sangen. Beim Singen werden die Aerosole noch weiter in die Umgebung geschleudert als beim Sprechen. „Ich bin fassungslos“, erklärte Hildburghausens Bürgermeister Tilo Kummer (Linke) am Mittwochabend.
Auf wiederholte Aufforderungen der Polizei, die Versammlung zu beenden, reagierte die Menge nicht. Die rund 30 eingetroffenen Polizisten griffen zum Pfefferspray und erreichten so eine Auflösung. Nach offiziellen Angaben der Polizei gebe es derzeit keine Hinweise auf eine von Rechtsextremisten gesteuerte Aktion. Dem Vernehmen nach war jedoch auch eine stadtbekannte Größe des regionalen Rechtsextremismus unter den Teilnehmern. Schon im Vorfeld seien Mitteilungen mit populistischen Falschinformationen verteilt worden. Die Mobilisierung über soziale Netzwerke scheint eine Rolle gespielt zu haben.
„Demokratie muss Proteste auch von Menschen, deren Meinung uns nicht passt, aushalten“, sagte Thüringens CDU-Fraktionschef Mario Voigt unserer Redaktion. Allerdings ende das Recht auf freie Meinungsäußerung dort, wo man sich, andere und mittelbar auch unbeteiligte Dritte gefährde. „Jeder weitere Infektionsherd im Landkreis ist einer zu viel“, betonte Voigt. Er kritisierte das rot-rot-grüne Bildungsministerium in Erfurt. Trotz dringlicher Bitten aus dem Landkreis habe das Ministerium nötige Schließungen „zu lange blockiert“.
Wie das thüringische Gesundheitsministerium auf Anfrage erläuterte, wird eine Hochzeitsfeier in Hildburghausen am 10. Oktober als „auslösendes Ereignis“für die fatale Entwicklung angesehen. 81 Gäste hätten daran teilgenommen, in der Folge seien mindestens 26 Gäste positiv getestet worden. Inzwischen sei das regionale Infektionsgeschehen diffus und ziehe sich durch alle gesellschaftlichen Bereiche und Altersschichten. An diesem Donnerstag seien aktuell 981 positive Fälle registriert worden.