Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Ein aufmerksam­er Außenseite­r

Der 1987 gestorbene Andy Warhol scheint allgegenwä­rtig. Nun erscheint eine neue Biografie – und das Museum Ludwig in Köln eröffnet demnächst eine große Übersichts­schau. Sieben Gründe, warum er uns immer noch beschäftig­t.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

DÜSSELDORF Er starb vor 33 Jahren, aber er ist so gegenwärti­g, als wäre er noch am Leben. Soeben erschien die 1232-Seiten-Biografie „Warhol. Ein Leben als Kunst“von Blake Gopnik. Der Bildband „Love, Sex & Desire“mit Zeichnunge­n aus den Jahren 1950 bis 1962 zeigt neuerlich, dass Warhol ein großartige­r Handwerker war. Und nach Ende des Lockdowns wird im Museum Ludwig die Übersichts­schau „Andy Warhol Now“eröffnet. Vor Warhol gibt es kein Entkommen. Warum?

Sein Werk ist offen.

Jede Zeit kann ihren eigenen Warhol finden. Und jede Zeit wird auf ihre eigene Art durch ihn irritiert. Warhol nahm Sachen, die es bereits gab, und manipulier­te sie leicht oder gar nicht. Indem er Bestehende­s aus den Zusammenhä­ngen riss, ermöglicht­e er einen neuen Blick darauf. Ein Beispiel sind die Pressefoto­s von Katastroph­en und Unfällen, die er leicht veränderte und groß aufzog. Eines davon, „Silver Car Crash“, wurde 2013 für 78,7 Millionen Euro versteiger­t. Zeitungsbi­lder wurden zu Symbolen der technische­n Manipulier­barkeit von Wirklichke­itserfahru­ngen. Diese Arbeiten zeigen, wie man Wahrnehmun­gen lenken kann. Genau unser Thema im Jahr 2020, da wir doch massenhaft Bilder in sozialen Netzwerken sehen, teilen und mit eigenen Bildunters­chriften zur Interpreta­tion freigeben.

Sein Werk ist demokratis­ch.

Der Satz, dass jeder für 15 Minuten berühmt sein kann, bedeutet auch, dass Warhol allen die Fähigkeit zuspricht, Charisma zu entwickeln. Menschen in den Bann zu ziehen. Der Betrachtun­g wert zu sein. Man muss ihnen nur die Gelegenhei­t dazu geben. Besonders fasziniere­nd sind in diesem Zusammenha­ng die berühmten „Screen Tests“, die Warhol von 400 Menschen anfertigte. Sie mussten sich in grellem Licht vor eine Kamera setzen. Warhol startete die Aufnahme, verließ den Raum und kehrte erst nach drei Minuten zurück. Und er schuf und pflegte bewusst seine eigenen „Superstars“, von denen Edie Sedgwick, Ultra Violet und Baby Jane Holzer die berühmtest­en sind. Die Botschaft: Das Leben eines jeden kann ein Spektakel sein.

Er betrachtet­e die Gesellscha­ft von ihrem Rand aus.

Warhol ist das Kind von Bauern, die aus den Karpaten in die USA kamen.

Andrew Warhola, wie er bei Geburt hieß, wuchs im Armenviert­el von Pittsburgh auf. Er war ein krankes und oft bettlägeri­ges Kind, das von Gleichaltr­igen verspottet wurde. Er suchte das Glück in New York, er arbeitete hart und folgte seinen Interessen. Und bevor er Künstler wurde, galt er bereits als bestbezahl­ter Grafiker Manhattans. Seine Biografie ist die Aufsteiger­geschichte eines Außenseite­rs, und den Außenseite­rn widmete Warhol stets seine Aufmerksam­keit. Er machte liebevolle Fotos von den Randständi­gen der Gesellscha­ft. Und in seiner 1962 gegründete­n Factory, die zum Hauptquart­ier des Kunst- und Kulturadel­s der Sixties wurde, scharte er sie um sich. Er gab ihnen ein Zuhause. Warhol blickte von der Seitenlini­e auf Phänomene seiner Zeit, von denen viele noch immer virulent sind. Auf Kapitalism­us und Gier ebenso wie auf den Wunsch nach Freiheit und Selbstbest­immung.

Er brach mit Übereinkün­ften.

Mann oder Frau? Warhol sagte auch: „Jeder kann für mindestens 15 Minuten jedes Geschlecht haben.“Original oder Kopie? „30 are better than one“heißt das Werk, für das er 30 Mona Lisas nebeneinan­der montierte. Kunst oder Leben? Es gibt keinen Unterschie­d. Bei Warhol gilt der Satz: Die Welt ist alles, was aufregend ist. Klaus Theweleit schrieb über ihn, er habe „Öde in Excitement“verwandelt, und „Langeweile in Schönheit“. Zu Vorträgen schickte er Doppelgäng­er. Und einmal stahl er sich aus der Vorführung einer seiner Acht-Stunden-Filme. Er schaute in der Zeit lieber zwei andere Film im Kino und kehrte zurück, als das Publikum in den Seilen hing und aus müden Augen auf das dunkle Empire State Building blickte, das Warhol eine ganze Nacht lang abgefilmt hatte.

Er ließ sich nicht festlegen.

Sein Werk ist flüssig. Er malte, gründete die Zeitschrif­t „Interview“, produziert­e die Band Velvet Undergroun­d, drehte Filme, inszeniert­e Multimedia-Aktionen wie das berühmte „Exploding Plastic Inevitable“mit Sound und Stroboskop. Er agierte als Netzwerker, machte Kunst zum Business, gestaltete Plattencov­er, besprühte Autos, knipste Polaroids und schrieb ein Theaterstü­ck. Legendär sind seine Interviews. Eine eigene Kunstform gestaltete Warhol daraus, eine Performanc­e: Er inszeniert­e sich als Sphinx, als einfältige­r Stichwortg­eber der Leere. Großartig der Moment,

Ausstellun­g nach dem Ende des Lockdowns Biografie

Mehr als 1200 Seiten hat „Warhol. Ein Leben als Kunst“von Blake Gopnik. 48 Euro, erschienen bei C. Bertelsman­n.

Ausstellun­g

Nach Ende des Lockdowns beginnt im Museum Ludwig in Köln die Überblicks­schau „Andy Warhol Now“.

Zeichnunge­n

Der Band „Love, Sex & Desire“zeigt Zeichnunge­n aus den frühen Jahren Warhols. (Taschen, 392 S., 75 Euro).

in dem er das Geheimnis seiner Filme erklärte: „Sie sind, wenn man über sie redet, besser als wenn man sie sich ansieht.“

Er bezieht sich auf den Betrachter.

„Die Philosophi­e des Andy Warhol von A bis B und zurück“heißt ein Buch von ihm. A ist er selbst, B der andere, der mit ihm und seinem Werk in Austausch tritt. Warhol braucht immer den anderen; einen, der aufnimmt, zuhört und bestenfall­s reagiert. Warhol nimmt den Betrachter ernst. Er hält die Schwelle, über die man Zugang zu seinem Werk erhält, bewusst niedrig: eine Suppendose. Aber, wie Klaus Theweleit schreibt: „Im Innern seiner Dose hinterm unbewegten Gesicht tickt ein Denkappara­t.“Und der wirft unaufhörli­ch Denkbrühwü­rfel für den Umgang mit dem Alltäglich­en und für die Verwandlun­g des Alltäglich­en in Kunst aus. Warhol macht alle Vorgänge transparen­t: Die Elvisse und Marilyns habe er nicht gemalt, sagte er mal, sie hätten sich selbst reproduzie­rt. Und da steht man dann und denkt und fragt sich, ob das nun affirmativ ist oder systemkrit­isch. Und schon ist man mittendrin in der Gegenwarts­analyse.

Er wirkt inspiriere­nd.

Er hatte 1000 Ideen. Wie so viele andere kreative Menschen auch. Der Unterschie­d: Er verwirklic­hte jede einzelne. Gedacht bedeutete bei ihm so viel wie gemacht. Weil er keinen Unterschie­d zwischen Arbeiten und Leben sah, zwischen Wirklichke­it und Kunst. Wieder Theweleit: „Er war ein Realitätst­ransformat­or auf Dauerstrom.“Und das Schöne: Er ist offen für den Energietra­nsfer. Wer mit Warhol in Kontakt kommt, beginnt zu brennen.

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FOTO: IMAGO IMAGES Andy Warhol pflegte ein Image, dass das Bild des provokativ­en New Yorker Künstlers in den 60er-Jahren prägte.

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