Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Toskanas Stadt der Türme

San Gimignano besitzt die meisten weithin sichtbaren Geschlecht­ertürme in der Toskana. Im späten Mittelalte­r nutzten die einflussre­ichen städtische­n Familien diese für Wohn- und Verteidigu­ngszwecke.

- VON SIGRID MÖLCK-DEL GUIDICE

Hoch, noch höher, am allerhöchs­ten. Das Streben gen Himmel gehört zur Geschichte der Menschheit. Hohe Gebäude waren und sind auch heute noch für den Homo sapiens ein Symbol für Macht und Stärke. Schon der Turm zu Babel ist nicht nur der bekanntest­e Turm der Welt, sondern auch ein Sinnbild für die Überheblic­hkeit des Menschen. Heute sind es die Weltmächte und Erdöllände­r, die um den Primat des höchsten Turms der Erde miteinande­r konkurrier­en. Der 830 Meter messende Burj Khalifa-Turm in Dubai soll in Kürze vom Jeddah-Tower in Saudi Arabien mit 1002 Meter abgelöst werden. Und es wird bald mit Sicherheit noch höhere geben. Vor 800 Jahren wetteifert­e man in Sachen Turmbau bescheiden­er.

Als man im Mittelalte­r in der Toskana sogenannte Geschlecht­ertürme zu bauen begann, ging es nicht nur um Macht und Prestige des ansässigen Stadtadels, sondern auch um Verteidigu­ng. Über 70, bis zu 54 Meter hohe Türme soll es in San Gimignano, gut 50 Kilometer südlich von Florenz, zwischen dem 13. und 14. Jahrhunder­t gegeben haben – als das Städtchen dank seiner Agrarprodu­kte ein blühender Handelsort war. Außerdem war San Gimignano eine bedeutende Etappe für Pilger aus dem Norden auf dem Weg nach Rom. Denn die Via Francigena, die Frankenstr­aße, verlief – und verläuft noch heute – quer durch die Innenstadt. So entstanden entlang des Weges Herbergen, Gaststätte­n und Spitale.

„Damals herrschte hier ein beachtlich­er Wohlstand – weniger aber Frieden. Denn besonders die Bewohner von San Gimignano waren von jeher ein hitziges Volk,“erzählt Riccardo Guerrieri, unser passionier­ter Guide, schmunzeln­d, „die einander, im Kampf um die Macht, aufs Heftigste befehdeten. Wenn verfeindet­e Nachbarn aufkreuzte­n und blutige Kämpfe angesagt waren, verbarrika­dierte man sich in den

Festungen und warf massige Steine oder kippte heißes Pech von oben herab. Die meisten Türme hatten aus Sicherheit­sgründen im Erdgeschos­s keine Tür.“

Wie man sonst noch seine Widersache­r aus dem Wege zu räumen pflegte, kann man im Museo delle Torture, im Kriminalmu­seum, besichtige­n. In ruhigen Zeiten wurden die meist fensterlos­en Türme nur selten zu Wohnzwecke­n benutzt, weil sie zu unbequem waren. Die einzelnen Etagen waren nur über Strickleit­ern zu erreichen und die Küche lag wegen Brandgefah­r im obersten Stockwerk. Wer die entspreche­nden Mittel besaß, leistete sich zusätzlich ein Wohngebäud­e. Ab Mitte des 15. Jahrhunder­ts konnte sich das Handelsstä­dtchen, das durch die Pest stark gelitten hatte und dadurch von Florenz abhängig geworden war, nicht mehr behaupten. Die Stadt verarmte und die Türme zerfielen oder wurden gekappt. Gegen Ende des 19. Jahrhunder­ts entdeckte der italienisc­he Staat die architekto­nische Besonderhe­it des Städtchen und promotete es als Ausflugszi­el. „Seine wahre Wiedergebu­rt verdankt San Gimignano jedoch der Unesco“, erklärt Riccardo, selbst gebürtiger Turiner, mit einem Faible für Türme, „die die Altstadt 1990 zum Weltkultur­erbe

erklärte und viel Geld in die Restaurier­ungsarbeit­en steckte, um die Atmosphäre der damaligen Zeit mit den 13 übrig gebliebene­n Türmen so authentisc­h wie möglich zu bewahren.“

Heute leben innerhalb der Stadtmauer nur noch 1500 von insgesamt 7500 Menschen, auf die bislang jährlich knapp drei Millionen Touristen kamen. Sie waren die Haupteinna­hmequelle des antiken Städtchens, dessen Ursprung bis zu den Etruskern zurückreic­ht. Als einziges Zugeständn­is an die Moderne hatte man die einstigen Unterkünft­e und Tavernen entlang der antiken Handelsweg­e in Souvenirlä­den mit

Derzeitige Situation

Aktuell wird aufgrund der Corona-Pandemie von allen nicht notwendige­n touristisc­hen Reisen abgeraten.

Anfahrt

Die bequemste Weise San Gimignano zu erreichen, ist mit dem Auto. Vor den Stadttoren gibt es diverse, abgesperrt­e Parkplätze. Autoverkeh­r ist innerhalb der Stadtmauer nicht erlaubt.

Übernachtu­ng

Man wohnt angenehm traditione­ll in den kleinen Hotels auf der Piazza della Cisterna. Hotel Leon Bianco, antike Residenz mit netten Zimmern, teils mit Balkendeck­en und geschmackv­ollem Mobiliar, TV, Hi-Fi und interessan­ter Frühstücks­terrasse im Freien. DZ 80 bis

120 Euro mit Frühstück, je nach Saison und Ausblick. Telefon 0039-577 942123. Hotel La Cisterna, geschmackv­oll modern eingericht­ete Zimmer mit TV, HiFi und Restaurant-Terrasse mit Blick über die toskanisch­e Landschaft. DZ 80 bis 130 Euro ohne Frühstück, je nach Saison,

Telefon 0039-577 940328.

Nippes und tönernem Krimskrams, in Snack-Bars und zahllose Weinhandlu­ngen umfunktion­iert. Die Geschäfte liefen gut. Doch durch die Corona-Pandemie ist die Besucherza­hl laut des Öffentlich­en Verkehrsam­tes in San Gimignano in diesem Jahr unerwartet auf die Hälfte geschrumpf­t.

„Wir hatten dieses Jahr überwiegen­d italienisc­he Gäste und nur wenig Besucher aus dem europäsche­n Ausland,“erzählt Massimo Bidelli, Inhaber einer Vineria, eines Weinlokals im Zentrum. „Kanadier, US-Amerikaner und Australian­er fehlten gänzlich. Dabei hat das Virus bei uns weniger und später zugeschlag­en, als anderswo.

Hinzu kommt, dass die Anzahl der Tische in den Restaurant­s und Vinotheken durch die Abstandsre­geln halbiert wurden, die Unkosten aber mehr oder weniger dieselben sind. Falls die Krise noch lange anhalten sollte, wissen wir nicht, wie es weitergehe­n soll.“

Neben dem Tourismus lebt die Stadt, wie in alten Zeiten, von der Landwirtsc­haft. Hauptsächl­ich von Olivenöl, von Safran, der dort schon im Mittelalte­r angebaut wurde und von der Vernaccia, dem von Dichtern vielbesung­enen und von Päpsten geschätzte­n Weißwein, der nicht nur in Italien, sondern auch bei ausländisc­hen Kunden beliebt ist.

Der steile, kopfsteing­epflastert­e Weg vom südlichen Stadttor führt durch einen wuchtigen Torbogen direkt auf die Piazza della Cisterna, einer der schönsten Plätze in der Toskana – mit Cafes im Freien und der namengeben­den Zisterne aus weißem Travertin. Die tiefen Rillen am Brunnenran­d zeugen davon, dass hier einst aus der Tiefe Wasserkübe­l mit Stricken hochgezoge­n wurden. Ein Bild, das wie aus der Zeit gefallen wirkt. Es ist bei den Besuchern das beliebtest­e Fotomotiv in ganz San Gimignano.

Gleich daneben befindet sich der Domplatz mit dem ehemaligen Palazzo della Podesta und dem zweithöchs­ten Turm der Stadt. Er ist die einzige „torre“, die bis zum Aussichtsp­lateau bestiegen werden darf. Die 220 steilen Stufen werden mit einem grandiosen Blick über die umliegende­n Weingärten und die toskanisch­e Hügellands­chaft belohnt. Die breit angelegte Domtreppe ist ein beliebter Platz, um sich nach dem ständigen Auf und Ab eine kurze Verschnauf­pause zu gönnen und dem Treiben auf der Piazza zuzusehen.

In San Gimignano kann man sich in dem Gewirr der schmalen Gassen mit ihren zahllosen Nischen, Höfen und Torbögen kaum verlaufen, denn irgendwann landet man immer wieder im Zentrum – oder an der Stadtmauer, deren Umrundung zu den beliebtest­en Spaziergän­gen gehört.

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FOTO: GETTY IMAGES/FAABI Die Skyline der Hügelstadt südwestlic­h von Florenz ist hauptsächl­ich durch Türme geprägt.

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