Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Ein Lob aufs Büro
Der Ort, an dem Millionen Menschen arbeiten, gilt als Stätte institutionalisierter Langeweile. Zu Unrecht. Das Büro ist total spannend! Zahllose Romane, Filme und sogar bissige Comedy-Serien wie „Stromberg“beweisen es.
Ein Kollege ist einer, der ohne jede Eignung unerklärlicherweise das Gleiche macht wie man selbst. Hach, waren das noch Zeiten, als ein solch altbackener Bürospruch ein gequältes Lächeln ins Gesicht der Schreibtischnachbarn zauberte und ein weiteres, heiteres, wenn sie die doppelte Pointe verstanden. Ja, damals konnte man durchaus Spaß im Großraum haben. Zumindest hatte man überhaupt ein Büro. Und Kollegen, die man nahezu täglich sah. Dass man ihre Marotten, ihre Art, sich zu kleiden, Geschichten aus Sphären, in denen sie besser geblieben wären, dass man dieses Soziotop nach Wochen im Homeoffice einmal so vermissen würde – wer hätte das gedacht?
Aber genauso ist es. Die Routine – damals erschien sie oft grau. Heute würden wir anerkennend von Struktur sprechen. Der Flurfunk – es war nicht alles bloß Gequatsche, wie die Abgehängten in ihren häuslichen Arbeitszimmern nun merken. Kleine Gesten der Aufmerksamkeit – nicht, dass wir sie gebraucht hätten. Oder doch? Jeder zehnte Deutsche gibt an, sich bei der Arbeit verliebt zu haben. Nun, wir zählen zu den übrigen neun.
Trotzdem: Das Büro fehlt. Obwohl es ein seltsamer Ort ist mit eigenen Regeln, einer eigenen Geschichte und individuellen Geheimnissen. Die meisten Menschen können sich ihren Job aussuchen, aber nur wenige, wo sie ihn ausüben. Und mit wem. Aber weil jede Story erst richtig Fahrt aufnimmt, wenn Gegensätze aufeinanderprallen, verlegen Romanautoren und Regisseure das Geschehen gern ins Büro. Ob „The Office“, „Mad Men“oder „Stromberg“– es ist die Unterschiedlichkeit der Charaktere, die nicht nur Reibung erzeugt, sondern in der wir zugleich unsere eigene Arbeitsstelle wiedererkennen. Mit etwas Fantasie böte vermutlich jede dieser Zwangsgemeinschaften Stoff für eine höchst unterhaltsame Serie.
Deshalb gilt das Büro zu Unrecht als Ort institutionalisierter Langeweile. Nicht anders lässt sich erklären, dass Millionen von Lesern das siebenbändige Werk „Das Büro“des niederländischen Autors J. J. Voskuils verschlungen haben. Der schüchterne Akademiker Maarten Koning taucht darin zwischen 1957 und 1989 in seinem schlichten Büro in einen Kosmos aus Faulheit, Opportunismus, Diskriminierung, Intrigen, Überforderung, ästhetischen Verfehlungen und anderen Übeln ein – kurzum ein Feuerwerk aus Nichtigkeiten. Nicht minder dicht, aber viel beklemmender hat Franz Kafka das Büro einst als kleinste Einheit einer undurchsichtigen Bürokratie beschrieben, unter der seine Protagonisten zu leiden haben.
Manch einer wiederum erinnert sich, wie er als Kind zum ersten Mal das Büro der Mutter oder des Vaters betreten durfte, zumal, wenn es dort noch nicht papierlos zuging und man Telefone aus schwarzem Bakelit auf polierten Schreibtischplatten entdeckte, kolossale Schreibmaschinen und einiges mehr von dem, was bei Manufactum heute als unverwüstliches Utensil für viel Geld zu erstehen ist. Man verließ diesen Ort, ohne verstanden zu haben, was dort geschah, aber mit dem Gefühl, dass er einen wahrscheinlich unbesiegbar machte.
Diesen Eindruck sollen all die imposanten Bürokomplexe vermitteln, die immer noch wie Pilze aus dem Boden schießen, als Statement aus Stein und Stahl für Kompetenz und Macht. Wie schäbig wirkt dagegen in mancher Szene aus der „Schwarzen Serie“Hollywoods ein Büro, hinter dessen Milchglasscheibe eine rauchige Stimme auf die Frage „Sie sind Marlowe, nicht?“antwortet: „Ich denke schon.“Damit unterstrich der Krimi-Autor Raymond Chandler, dass das Auffinden der Wahrheit für seinen Helden, den Privatdetektiv Philip Marlowe, im Zentrum des Handelns stand, nicht das Streben nach Geld, Glanz und Ruhm, das ein schickes Büro verraten hätte.
Büros kommen um das Jahr 1800 auf – als Anlauf- und Arbeitsstelle für Händler, Beamte und Handwerker. Eine der ersten Romanfiguren, die diesem neuen Tätigkeitsumfeld entspringen, ist Herman Melvilles „Bartleby, der Schreiber“von 1853, praktisch der Prototyp des modernen Antihelden, ein rätselhafter Arbeitsverweigerer, wie er in abgemilderter Form dem ein oder anderen auch schon im wirklichen Leben begegnet ist. Anfang des 20. Jahrhunderts sitzen drei Prozent aller Beschäftigten in einem Büro. Vor Corona war es immerhin fast jeder Zweite. Ein Viertel der Deutschen empfindet die Vermischung von Arbeits- und häuslicher Welt durch Homeoffice inzwischen als belastend. 66 Prozent der von der Unternehmensberatung Deloitte befragten Finanzvorstände hingegen planen, künftig vermehrt auf „Remote Working“zu setzen.
Dabei hatte einst die Trennung zwischen Wohnung und Arbeit überhaupt erst das geschaffen, was die meisten Leute heutzutage hoch schätzen: das Private. Welch zivilisatorischen Fortschritt das darstellt, und wie hart er erkämpft wurde, gerät vor lauter Technikbegeisterung leicht aus dem Blick. In vorindustrieller Zeit lebten Wirtschaftsgemeinschaften meist nicht nur dort, wo sie ihrem Broterwerb nachgingen, sondern oft auch unter einem Dach: Bauern mit Gesinde, Handwerker mit Gesellen, mehrere Generationen einer Familie, in der alle mitarbeiteten. Das hört sich romantischer an, als es war. Erst die biedermeierliche Wohnung wird zum Rückzugsort, aus dem die Arbeit verbannt ist. Ein Refugium, auf welches das aufstrebende Bürgertums stolz ist.
Andere waren nicht so privilegiert: Homeoffice hieß im 19. und 20. Jahrhundert „Heimarbeit“, was nicht nur weniger schick klingt, sondern es auch war. Millionen, meist Frauen, gingen ihr nach, sie nähten, webten, stickten, wurden ausgebeutet und genossen keinen Arbeitsschutz. Das ist heute anders. Aber der Weg dahin war lang.
Bleibt nur zu hoffen, dass sich unser Weg zurück ins Büro nicht derart hinzieht. Zu lesen und zu gucken gibt es zum Thema in der Zwischenzeit glücklicherweise genug. Und wenn es noch einmal der 1960 gedrehte Klassiker unter den Bürofilmen ist: „Das Appartement“von Billy Wilder mit dem großartigen Jack Lemmon und der wunderbaren Shirley MacLaine.