Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Nach Corona-Tod: Familie trauert um Ahmet (14)
Ein 14-jähriger Junge aus Hückelhoven starb im Rheydter Elisabeth-Krankenhaus an Corona. Seine Eltern Tuncay und Ayten Dogan erinnern sich an traurige und glückliche Momente mit dem schwer kranken Kind.
HÜCKELHOVEN Die schönen Momente. Tuncay Dogan (42) und seine Ehefrau Ayten (38) haben sie festgehalten mit der Kamera. Ahmet feiert Kindergeburtstag. Ahmet bei der Delfintherapie in der Türkei. Ahmet, wie er lacht. Mutter Ayten, die ihn im Spezialsitz vorne an ihrem Fahrrad in der alten Bergmannssiedlung spazieren fährt. Seit vier Wochen ist Ahmet nicht mehr da.
Das leere Kinderzimmer im Erdgeschoss tut weh. Ihr Erstgeborener, der schon als kleiner Säugling unter schlimmen epileptischen Anfällen litt, starb im Rheydter Elisabeth-Krankenhaus an Corona. Der Taxifahrer aus der ehemaligen Zechenstadt und seine Frau, gelernte Rettungsassistentin, wirken gefasst, als sie sich erinnern. Sie blättern in den Fotoalben, erzählen von Ahmet, der 14 war und der Mittelpunkt der Familie, zu der auch die beiden kleinen Töchter Zümra (3) und Berra (8) gehören. Jeden Tag vermissen sie ihn. „Dein Bruder ist jetzt ein Engel“, sagen die Erwachsenen zu Berra. „Aber ich möchte ihn zurück haben“, entgegnet das kleine Mädchen dann. „Ahmet war immer ein ganz besonderes Kind, ein Geschenk Gottes“, erzählt Mutter Ayten leise.
Als sie Freunde in Gelsenkirchen besuchen, ist Ahmet gerade vier Monate alt und erleidet seinen ersten epileptischen Anfall. „Er hörte gar nicht mehr auf zu schreien. Er war nicht zu beruhigen. Wir hatten dafür gar keine Erklärung“, erinnert sich der Familienvater. Sie bringen ihn in eine Kinderklinik in der fremden Stadt. Die Ärzte finden nichts, sie nehmen ihn mit nach Hause, nach Hückelhoven. Der Augenarzt in Wegberg, der Notdienst hat, stellt fest, dass das Baby nicht auf Licht reagiert. Ultraschalluntersuchungen des Gehirns in der Kinderklinik des Rheydter Elisabeth-Krankenhauses. Der Befund: unauffällig. Dann eine Computertomographie (CT). Erneut kein Befund. Das EEG bringt die bittere Wahrheit ans Licht: Ahmet ist schwer krank, Epilepsie.
Im Alter von vier Monaten hört seine Entwicklung auf. Nach zwei Wochen der zweite schwere Anfall.
Große Sorgen verdrängen die unbeschwerten Momente mit ihrem Schatz. Die ausgeprägte Muskelschwäche verhindert, dass Ahmet laufen lernt. Rund um die Uhr ist der schwer kranke Junge auf Hilfe angewiesen. „Er musste auch gefüttert werden“, erzählt seine Mutter. Mehrere persönliche Assistenten unterstützen die Hückelhovener
Familie, erleichtern ihr den Alltag, so gut es geht. Obwohl Ahmet unheilbar krank ist, lässt er sich die Lebensfreude nicht nehmen. Er muss Operationen an der Hüfte und an der Wirbelsäule über sich ergehen lassen.
Zusammen werden Kekse gebacken, mit der Lebenshilfe werden Ausflüge in die nähere Umgebung unternommen, in den Tierpark oder gemeinsames Einkaufen. Seine Eltern sind sicher, dass Ahmet gespürt hat, wie sehr er gemocht wurde – von seiner eigenen Familie, Freunden, Verwandten, Nachbarn, den Ärzten und dem Pflegepersonal im Elisabeth-Krankenhaus, in dem der Junge schon bald ein dauerhafter Patient war, sogar von den Ämtern und Behörden. „Alle mochten ihn gern, jeder kannte ihn. Er war ein sehr aktives Kind“, erklärt Ayten Dogan. „An seinem ersten Geburtstag kamen die Ärzte aus Rheydt zu uns nach Hause, um mit uns zu feiern. Das war wie eine große Familie.“
Vor einem Monat merken die besorgten Eltern, dass es Ahmet nicht gut geht. Ein Infekt, glauben sie. „Er hatte kein Fieber, war aber sehr verschleimt“, erinnert sich Ayten Dogan. „Das Blutbild war normal.“Ahmet benötigt sein Sauerstoffgerät viel mehr als sonst. Vater und Mutter
beschließen, mit ihm zum Elisabeth-Krankenhaus nach Rheydt zu fahren, wo Ahmet stationär aufgenommen wird wie schon so oft. Eine Lungenentzündung wird diagnostiziert.
Auch Ayten Dogan geht es nicht gut, Gelenkschmerzen. „Aber die habe ich oft.“Der Corona-Test weist positive Ergebnisse für Mutter und Sohn auf. Sie ziehen um in ein isoliertes Krankenzimmer. Vater Tuncay wird nicht getestet, muss zu Hause in Hückelhoven in die Quarantäne und sich auch um die beiden Töchter kümmern. Ahmets Zustand verschlechtert sich immer mehr, der 14-Jährige bekommt sehr schlecht Luft. Den Eltern bleiben nur Telefonate. „Wie geht es euch?“fragt der Vater. „Das schaffen wir“, antwortet die Mutter. „Wir kämpfen.“
Sie weicht nicht von Ahmets Seite. Die Ärzte geben ihr zu verstehen, dass es schlecht steht um ihren Jungen. „Es ist sehr ernst“, sagen sie. Ahmets Augen sind weit geöffnet, aber er ist nicht mehr bei Bewusstsein. Die Mutter streichelt seine Stirn, liest ihm etwas aus dem Koran vor, hält seine Hand. „Du willst gehen. Du darfst gehen“, flüstert sie ihm zu. Ahmets Puls steigt plötzlich auf 250. „Dann ist er langsam eingeschlafen.“
Weil sich die Eltern immer noch in Quarantäne befinden, findet die Beerdigung ohne sie statt. Im türkischen Zonguldak an der Schwarzmeerküste kümmern sich Ayten Dogans Eltern um das Begräbnis. Inzwischen hat seine Mutter das Grab mit den frischen Blumen und den bunten Luftballons schon einmal besucht. „Ahmet mochte Luftballons“, sagt sie.
Die Dogans sind dankbar für Anteilnahme und Solidarität. Das Elisabeth-Krankenhaus in Mönchengladbach-Rheydt, die Lebenshilfe, die Stadtverwaltung in Hückelhoven und viele andere Behörden hätten ihnen oft geholfen, erzählen sie. Und weiter: „Alle waren traurig und schockiert.“Ob es nach Corona eine öffentliche Trauerfeier in der Moschee geben wird, wollen sie noch überlegen. Wenn Ahmets Mutter im Fernsehen die Bilder von den Demonstrationen der Corona-Leugner sieht, wird sie wütend. „Das macht mich wirklich sauer. Natürlich gibt es das Virus.“