Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Rumänien gehen die Ärzte aus
Seit Jahren verlassen Mediziner das Land wegen der miserablen Arbeitsbedingungen, um im Westen zu arbeiten. In der Corona-Krise rächt sich das.
BELGRAD/BUKAREST Ihre Auswanderung ins schwäbische Rottweil hat die rumänische Neurologin Ioana nie bereut. Als sie 2014 ihren damaligen Arbeitsplatz im rumänischen Cluj (Klausenburg) verließ, habe sie dort als Jungärztin inklusive Wochenendzulagen und Essensbons 350 Euro netto pro Monat verdient, berichtet die heute 34-jährige Fachärztin: „Junge Internisten kamen damals selbst nur auf 250 Euro netto im Monat. Und dafür hatten wir zu arbeiten, bis uns die Augen aus dem Kopf fielen.“
Allein die Monatsmiete für eine Zweizimmerwohnung habe damals in Cluj 300 Euro kalt betragen, erinnert sich die dreifache Mutter an den entbehrungsreichen Beginn ihrer Berufskarriere: „Viele von uns kamen nur mit Hilfe ihrer Eltern über die Runden.“Der wichtigste Grund für ihre Entscheidung zur Emigration sei jedoch der völlige Mangel an Respekt im Berufsalltag gewesen – nicht nur von den Patienten, sondern auch von den Vorgesetzten. Zum schlechten Arbeitsklima gesellten sich miserable Bedingungen: „Selbst Handschuhe und Masken mussten wir für unsere Arbeit selbst erwerben.“
Nach Angaben von Stefan Roman, dem Ortsvorsitzenden der Gewerkschaft „Sanitas“in Cluj, haben im vergangenen Jahrzehnt rund 30.000 Ärzte und Krankenschwestern das Land verlassen. Obwohl Bukarest die kargen Gehälter im Gesundheitssektor 2018 zur Abbremsung des Aderlasses verdoppelt hat, sei die Gehaltskluft zum Westen noch immer groß. Daneben nennt auch er fehlende Anerkennung und schlechte Bedingungen als Ursachen für die Abwanderung: „Der Personalmangel in allen Bereichen sorgt für enormen physischen und mentalen Druck.“
Das Personaldefizit im Gesundheitssektor beziffert die Gewerkschaft „Solidaritatea Sanitara“auf 40.000 Mitarbeiter. Von der Abwanderung qualifizierter Kräfte seien besonders die Intensivstationen betroffen, so der Gesundheitsexperte Vlad Mixich. Ihm zufolge braut sich über Rumänien in der Corona-Krise ein Sturm zusammen: „Einerseits mangelt es an Ärzten, die für die Intensivpflege ausgebildet sind, weil viele ausgewandert sind. Andererseits gibt es wegen der Pandemie gerade für die Intensivpflege einen enormen Bedarf an Spezialisten.“Von einem „enormen Druck auf das gesamte System“durch die Corona-Krise spricht auch Ion Cosmin Puia, der Vorsitzende der Ärztekammer in Cluj.
Die 14.000 seit 2010 ausgewanderten Ärzte machen laut Rumäniens Ärztekammer über ein Viertel des derzeitigen Bestands von 53.000 aus. Seit der Erhöhung der Löhne habe sich in Cluj die Zahl der Ärzte, die die für eine Arbeit im Ausland nötigen Dokumente beantragt haben, von rund 400 auf 200 pro Jahr reduziert, berichtet Puia. Seinen Angaben zufolge verdient ein Assistenzarzt bei Berufsbeginn inzwischen rund 4500 Lei (925 Euro) netto im Monat, während ein Oberarzt mit einem Nettogehalt von 9500 Lei (1950 Euro) rechnen kann.
Rumäniens Ärzte wüssten die staatlichen Anstrengungen zur Verbesserung ihrer Einkünfte durchaus zu würdigen, sagt Puia. Gleichzeitig nennt er die „extrem verletzliche Position“des Berufsstands als Hauptgrund der anhaltenden Emigration. Das unklar formulierte Gesetz zu Fehlbehandlungen liefere die Ärzte bei jeder Komplikation der Unzufriedenheit der Patienten aus.
Dem Ärzteexporteur Rumänien gehen die Ärzte aus. Gleichzeitig buhlen westeuropäische Staaten weiter um die hochqualifizierten Fachkräfte. Jedes Jahr würden zehn Prozent der Ärzte „aktiv rekrutiert“, ärgert sich die Europaparlamentarierin Clotilde Armand. Angesichts von 100.000 Euro an Ausbildungskosten pro Arzt bezeichnet sie den Exodus als „großen Transfer von Wohlstand“nach Westen – auf Kosten der rumänischen Steuerzahler.
Rumänien sei zu einer „Gratisbrutstätte von hochqualifizierten Gesundheitsfachkräften“geworden, ätzt Gewerkschafter Roman: „Es wäre normal und fair, dass diejenigen Staaten, die davon profitieren, einen Ausgleich an das Herkunftsland bezahlen.“Die Lage für die Ärzte habe sich „finanziell etwas verbessert“, sagt in Rottweil Emigrantin Ioana. Gedanken an eine Rückkehr hege sie dennoch keine. Noch immer herrsche in ihrer Heimat Vetternwirtschaft und Bürokratie: „Ich könnte mich an die Bedingungen nicht mehr gewöhnen.“Wenn sie an Rumäniens Gesundheitssystem denke, verspüre sie vor allem Wut: „Wir sind gute Ärzte. Aber jeder tritt uns auf die Zehen.“