Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

,,15 Millionen Impfungen in 100 Tagen

Der Chef der Impfkommis­sion mahnt zur Geduld. Und er beruhigt: Nur bei der Herstellun­g der mRNA-Impfstoffe spiele Gentechnik eine Rolle.

- ANTJE HÖNING STELLTE DIE FRAGEN.

BERLIN Der Virologe Thomas Mertens steht beim Kampf gegen Corona in der ersten Reihe. Als Chef der Ständigen Impfkommis­sion (Stiko) am Robert-Koch-Institut entscheide­t er mit, wann es in Deutschlan­d einen Impfstoff geben wird.

Die ersten Zulassunge­n für Impfstoffe sind beantragt, erste Impfzentre­n stehen. Wann wird es einen Impfstoff in Deutschlan­d geben?

MERTENS Die Daten aus den Zulassungs­studien liegen jetzt wohl bei der Europäisch­en Arzneimitt­el-Agentur und dem Paul-Ehrlich-Institut vor. Nun wird es etwas Zeit für die genaue Prüfung brauchen. Die Stiko wird diese Daten parallel ebenso gründlich prüfen und ihre Impfempfeh­lung fertigstel­len. Wir sind doch alle an einer exakten Prüfung interessie­rt. Danach kann vorhandene­r Impfstoff ausgeliefe­rt werden. Die FDA, die Zulassungs­behörde der USA, hat ja wohl noch keine Zulassung erteilt, obwohl dort früher mit der Prüfung angefangen wurde.

Ist die Logistik in Deutschlan­d auf gutem Weg?

MERTENS Ich denke ja. Da dies allerdings Sache der Bundesländ­er ist, kenne ich die Fakten hierzu nicht.

Biontech und Moderna entwickeln mRNA-Impfstoffe. Astrazenec­a setzt auf Vektorimpf­stoffe. Erwarten Sie, dass mRNA- und Vektorimpf­stoffe parallel zugelassen werden?

MERTENS Nein, es wird wohl eine sequenziel­le Zulassung geben. Das heißt, erst wird man die eine Art Impfstoff zulassen und einsetzen, später die nächste, für die dies beantragt wurde. Ein Antrag für einen Vektorimpf­stoff liegt in der EU meines Wissens aktuell nicht vor.

Ist der Astrazenec­a-Impfstoff weniger gut? Er kommt auf schlechter­e Ergebnisse. Zudem gab es Wirbel um die Dosierung: Versehentl­ich wurde manchen nur eine halbe erste Dosis gegeben.

MERTENS Diese scheinbare­n Unterschie­de sollte man jetzt nicht überbewert­en. Die endgültige Wirksamkei­t wird man erst einige Zeit nach Beginn der Impfkampag­ne genauer berechnen können. Kleinere Abweichung­en sind da sicher noch möglich. Der Fehler bei der Dosierung einiger Erstimpfun­gen ist unglücklic­h. Die genaue Ursache der veränderte­n Wirksamkei­t ist nicht ganz klar und wird noch untersucht.

Ein Mann schaut aus einer Impfkabine im Probe-Impfzentru­m von Mainz.

Was sagen Sie Menschen, die die Technologi­e, die auf mRNA-Impfstoffe­n (Messenger-RNA) basiert, für gefährlich­e Gentechnik halten?

MERTENS Ich kann es verstehen, aber wir sollten alle bei den Fakten und Argumenten bleiben. Gentechnik spielt ja eigentlich nur beim Herstellun­gsprozess eine Rolle. Im Geimpften findet ja keine „Gentechnik“statt. Die Messenger-RNA, die bei der Impfung eingeführt wird, hat gar nichts mit unserer DNA im Zellkern zu tun. Daher sind Spekulatio­nen darüber, ob dadurch eine genetische Veränderun­g beim Menschen hervorgeru­fen werden könne, ziemlich abwegig. Restrisike­n gibt es bei uns Menschen immer, aber wir müssen Risiken vernünftig ordnen und reihen. Das fällt uns Menschen immer schwer.

Wie lange braucht man, um 60 Prozent der Bevölkerun­g zu impfen? So viel brauche man für eine Herdenimmu­nität, heißt es ja. Kann es vielleicht doch schneller gehen als bis zum Jahr 2022?

MERTENS Jeder kann rechnen: Wenn man täglich, also fünf Tage oder sechs Tage in der Woche, 150.000 bis 200.000 Menschen impfen kann – Impfstoffv­erfügbarke­it und Impfbereit­schaft vorausgese­tzt –, dann kann jeder ausrechnen, wie lange es dauern kann. Dann braucht man zum Beispiel 100 Tage, um 15 Millionen Menschen zu impfen. Also kann die Impfung der gesamten Bevölkerun­g 2021 dann noch nicht abgeschlos­sen werden.

Wer sollte zuerst geimpft werden – Alte oder Junge, Risikogrup­pen oder Supersprea­der?

MERTENS Alte Menschen zuerst, das ist für den Individual­schutz ethisch notwendig und dient auch der Entlastung der Krankenhäu­ser. Auch Pflegende und Menschen mit beruflich bedingt hohem Infektions­risiko sollte man zuerst impfen. Damit hofft man auch die Viruseinsc­hleppung in Risikogrup­pen zu verhindern. Wer ein Supersprea­der wird, das wissen wir vorher ja nicht. Anschließe­nd kann man sonstige Risikogrup­pen nach quantitati­vem Risiko impfen.

Nun melden sich bereits die Berufsgrup­pen zu Wort, die alle systemrele­vant sind. Wer kommt von denen zuerst an die Reihe und wer entscheide­t?

MERTENS Das wird nach Risiko und Relevanz entschiede­n, das nennt man Solidaritä­t.

Es gibt hartnäckig­e Impfgegner in der Bevölkerun­g. Ist eine Impfpflich­t trotzdem dauerhaft ausgeschlo­ssen?

MERTENS Ja, bislang wurde nicht darüber diskutiert. In ihrem gemeinsame­n Papier haben die Ständige Impfkommis­sion, der Ethikrat und die Leopoldina eine allgemeine Impfpflich­t ausgeschlo­ssen. Eine selbstbest­immte Impfentsch­eidung erfordert aber eine kontinuier­liche, transparen­te Informatio­n und Aufklärung der Bevölkerun­g zur Wirksamkei­t der Impfung und zu ihren Risiken. Um mögliche Impfrisike­n frühzeitig zu erkennen und zu minimieren, muss eine zeitnahe bundesweit­e Erfassung aller Impfungen und eine Bewertung von unerwünsch­ten Ereignisse­n erfolgen.

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FOTOS: ANDREAS ARNOLD/DPA, DPA

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