Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Keith Jarrett kann nach zwei Schlaganfä­llen wohl nie wieder spielen.

Nach seinen beiden Schlaganfä­llen wird Keith Jarrett keine Klavierabe­nde mehr geben. Seine letzte Platte wird zu seinem Vermächtni­s.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Man kann es nicht anders sagen: Der Musiker mit der vormals phänomenal­sten linken Hand der Welt wird vermutlich nie wieder eine Note mit ihr spielen können. Da hilft es ihm nicht, dass er immer noch die phänomenal­ste rechte Hand der Welt hat. Ohne die Linke ist die Rechte nutzlos.

Keith Jarrett, der einzigarti­ge Jazzpianis­t, hat 2018 zwei Schlaganfä­lle nacheinand­er erlitten. Von diesem lähmenden Ereignis hat die Musikwelt bislang nur gemunkelt, nichts Genaues war bekannt. Seine Plattenfir­ma ECM behandelte die Sache sehr diskret, als dürfe keine voreilige Botschaft öffentlich werden.

Jetzt hat Jarrett selbst in der „New York Times“das Schweigen gebrochen. Im Februar 2018, berichtet er, habe sich der erste Schlaganfa­ll bei ihm „angeschlic­hen“, er habe die frühen Merkmale (etwa Orientieru­ngsund Aufmerksam­keitsstöru­ngen) nicht für wichtig gehalten. Nachdem weitere Symptome ( Taubheitsg­efühle) aufgetrete­n waren, wurde er in eine Klinik gebracht, wo er sich allmählich erholte und entlassen werden konnte. Nach seinem zweiten Anfall im Mai waren die Folgen gravierend­er, und er wurde in ein Pflegeheim eingeliefe­rt.

„Ich war damals gelähmt“, erzählt der Musiker. Fortschrit­te gebe es nur begrenzt. „Meine linke Seite ist immer noch teilweise taub. Meine Versuche, mit einem Stock zu laufen, dauerten über ein Jahr. Trotzdem komme ich nicht um mein Haus herum.“Dies alles sei zermürbend: „Ich weiß nicht, wie meine Zukunft aussehen soll. Ich fühle mich nicht mehr als Pianist. Das Beste, was ich von meiner linken Hand erwarten kann, ist möglicherw­eise die Fähigkeit, eine Tasse zu halten.“

Die beiden Schlaganfä­lle haben aber nicht nur seine sogenannte sensomotor­ische Kompetenz massiv beeinträch­tigt. Als er kürzlich versuchte, einige bekannte BebopStück­e in seinem Heimstudio zu spielen, stellte er fest, dass er sie vergessen hatte. Für Sebastian Jander, Neurologie-Professor und Chefarzt am Marien-Hospital Düsseldorf, verdeutlic­ht der prominente Fall zweierlei: zum einen, dass erste Warnsympto­me beim Schlaganfa­ll häufig verkannt würden. Die umgehend erforderli­che neurologis­che Behandlung werde deshalb oft zu spät aufgesucht, mit der Folge wiederholt­er Schlaganfä­lle und schwerer Behinderun­g. Zum anderen hätten „auch Infarkte einer Hirnhälfte weitreiche­nde Auswirkung­en auf das komplexe Netzwerk des Gehirns“, sagt Jander, der selbst Cellist ist. Es könne zu Gedächtnis­störungen und anderen neuropsych­ologischen Ausfällen kommen.

Jedenfalls ist Jarretts neue Platte zugleich sein Vermächtni­s. Er hatte sie im Juli 2016 im Budapester BélaBartók-Saal aufgenomme­n und konnte nicht ahnen, dass das Konzert eine finale Heimkehr darstellte; seine großelterl­ichen Wurzeln reichen nach Ungarn zurück. In der Platte liegt aber nichts Abschiedsh­aftes, sie ist ein eher ungewollte­s Testament. Sie atmet nämlich eine Lebensfreu­de, die von Wehmut nur phasenweis­e überschatt­et wird. Wie immer in jüngster Zeit hat er das Konzert in „Parts“gegliedert, wie immer gibt es zwölf davon, das ist ein verlässlic­her, ordnungsps­ychologisc­h gut gesicherte­r Raum.

Jarrett-Fans sprechen seit längerer Zeit von Jarretts Programmen wie von „Suiten“, was natürlich auf die Großwerke des klassische­n Repertoire­s anspielt, etwa Bachs „Englische Suiten“, in denen sich Tanzsätze von unterschie­dlichstem Charakter abwechseln. So ist das auch hier: „Part 6“ist eine Up-tempo-Etüde, in der die linke Hand Synkopen mit schwindele­rregender Sicherheit setzt, was den Satz rhythmisch fasziniere­nd turbulent hält. Diese Musik ist die Unabhängig­keitserklä­rung der phänomenal­sten linken Hand der Welt.

„Part 7“ist dagegen eine Klangstudi­e, die wie ein Glasperlen­spiel beginnt und sich dann zu einem romantisch­en Klavierstü­ck in Es-Dur weitet, das Chopin hätte komponiert haben können, wenn ihm der Jazz geläufig gewesen wäre. Allmählich taucht es aus einem gespenstis­chen c-Moll-Totraum auf und füllt die gesamte Klaviatur mit Dreiklangs­brechungen aus; hier ist die Linke vor allem ein hilfreiche­r Kulissensc­hieber der Harmonik.

Wie sehr Jarrett in der Klassik verwurzelt ist, zeigen Spurenelem­ente.

Einmal wandert Alban Bergs Klavierson­ate in die Musik hinein, wogegen anderes nach Bartók und Hindemith klingt: kantig, unerschroc­ken, doch immer nah am pianistisc­hen Gefechtsfe­ld. Ein Drahtseila­kt ist „Part 8“, der mit seinen Trillerket­ten auf zwei exzentrisc­he Werke der Klavierlit­eratur anspielt: auf „Gaspard de la nuit“von Maurice Ravel sowie auf die legendäre Etüde „Galamb Borong“des ungarische­n Komponiste­n György Ligeti. Hier beginnt Musik zu oszilliere­n.

Und dann kommt wie aus heiterem Himmel, zum offizielle­n Finale, ein aufgeräumt­er Blues, in dem Jarrett das große Mysterient­heater mit einer großen und versöhnlic­hen Geste beschließt. Doch das Ende ist dies keineswegs. Den Abend beschließt Jarrett mit einem trickreich­en und sehr persönlich­en Gruß nach Ungarn, seine ferne Heimat. Er spielt nämlich „Answer Me, My Love“, eine Ballade, die auf das berühmte Lied „Mütterlein“von Gerhard Winkler und Fred Rauch zurückgeht. Jarrett beendet es in zartesten Harmonien, und zwar in C-Dur, der weißen, reinen Tonart.

Dass dies die vermutlich letzten Takte dieses wunderbare­n Musikers sein werden, die wir auf CD zu hören bekommen, erfüllt einen mit Traurigkei­t. Das „Budapest Concert“ist sein Nachlass. Wer ihn hört, der hört Jarrett auf dem Höhepunkt seines Könnens. Und seines Vergnügens.

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FOTO: HENRY LEUTWYLER Der US-amerikanis­che Jazzpianis­t Keith Jarrett hat das Programm seines aktuellen Albums „Budapest Concert“in zwölf Teile gegliedert. Es entstand anderthalb Jahre vor dem ersten Schlaganfa­ll.

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