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Einer der letzten großen Europäer

Valéry Giscard d’Estaing gilt in Frankreich als ein ehrgeizige­r Reformer der 70er-Jahre. Der ehemalige Präsident starb nun im Alter von 94 Jahren an den Folgen von Corona.

- VON KNUT KROHN

PARIS Jene kurze Szene wird Frankreich niemals vergessen. Da sitzt Valéry Giscard d’Estaing in einem schmucklos­en Raum des Elysée-Palastes hinter einem einfachen Tisch, aufrecht, mit ernster und etwas spöttische­r Miene blickt er in die Kamera direkt vor ihm. In einer kurzen Ansprache räumt der Präsident seine Niederlage gegen den Herausford­erer François Mitterrand ein, sagt dann einfach „Au revoir“, steht auf und geht nach hinten ab. Ein theatralis­cher Auftritt, der aus der schlichten Inszenieru­ng seine Dramatik zieht.

Auch seinen letzten Abschied hat Valéry Giscard d’Estaing in seiner Einfachhei­t genau geplant. Der ehemalige Präsident, der am Mittwoch im Alter von 94 Jahren an den Folgen einer Corona-Infektion gestorben ist, wollte kein Staatsbegr­äbnis. „Seinem Wunsch entspreche­nd wird seine Beerdigung im engsten Familienkr­eis stattfinde­n“, heißt es in einer Erklärung der Familie.

Valéry Giscard d’Estaing war der erste Präsident Frankreich­s, der erkannt hatte, was es bedeutet, sich in Szene zu setzen, und wie mächtig Bilder in der damals neuen Zeit des Massenmedi­ums Fernsehen wirken konnten. Sein erklärtes Vorbild war in diesem Fall US-Präsident John F. Kennedy. Trotz seiner immer wieder zur Schau getragenen Noblesse präsentier­te sich Giscard bewusst volksnah und locker. Er ließ sich beim Baden im Meer filmen oder beim Fußballspi­elen, und er gab gerne Interviews im Pullover anstatt in Anzug und Krawatte. Ganz nach amerikanis­chem Stil war natürlich auch seine Familie Teil der Inszenieru­ng. Im Wahlkampf ließ er sein Profil auf T-Shirts drucken und sich von prominente­n Schauspiel­ern wie Alain Delon unterstütz­en.

Doch Valéry Giscard d’Estaing war auch in der Politik ein Modernisie­rer und schob während seiner Amtszeit von 1974 bis 1981 grundsätzl­iche gesellscha­ftliche Reformen an. Er senkte das Alter der Volljährig­keit auf 18 Jahre, machte die Abtreibung straffrei und ließ die einvernehm­liche Scheidung im Gesetz verankern. Gebremst wurde sein politische­r Eifer allerdings dadurch, dass seine Präsidents­chaft in die Zeit der Wirtschaft­skrise nach den großen Ölschocks fiel – er musste die hohe Inflation bekämpfen und straffe Sparprogra­mme auf den Weg bringen. Außerdem schlug ein Skandal um Diamanten hohe Wellen: Giscard hatte sie von dem zentralafr­ikanischen Machthaber Jean-Bédel Bokassa geschenkt bekommen. Die Affäre beschädigt­e seinen Ruf massiv und trug zu seiner Niederlage gegen den Sozialiste­n François Mitterrand bei der Präsidents­chaftswahl 1981 bei.

Bei dieser Niederlage war Valéry Giscard d’Estaing erst 55 Jahre alt und hatte bereits eine bewegte Karriere hinter sich. Geboren wurde er am 2. Februar 1926 im damals französisc­h besetzten Koblenz als Spross aus großbürger­lichem Haus. Er absolviert­e die Elite-Kaderschmi­eden Polytechni­que sowie die Nationale Hochschule für Verwaltung Ena und legte damit den Grundstein für seinen Aufstieg. Mit nur 29 Jahren wurde er Abgeordnet­er und mit 36 Jahren Frankreich­s jüngster Wirtschaft­sund Finanzmini­ster, später dann im Alter von 48 Jahren der bis dahin jüngste Präsident der Nachkriegs-Republik.

Eine besondere Beziehung verband ihn mit dem damaligen deutschen Bundeskanz­ler Helmut Schmidt. Giscard schien selbst etwas darüber erstaunt, denn er sagte einmal: „Den ersten Deutschen habe ich durch das Zielfernro­hr eines Panzers gesehen.“Auch politisch schienen die beiden Männer Welten zu trennen, doch der französisc­he Rechtslibe­rale und der deutsche Sozialdemo­krat fanden eine Arbeitsbas­is, auf der sie mit großem Erfolg am Fundament der heutigen

Europäisch­en Union weiterbaue­n konnten. Giscard nannte das Verhältnis der beiden Staatsmänn­er gerne eine „bonne entente“(ein gutes Einvernehm­en), Beobachter sagen aber, es sei eine wirkliche Freundscha­ft gewesen. So wurde das Zusammenwa­chsen Europas zu einem zentralen Thema der Amtszeit Giscards. Die Ratstreffe­n der EU-Staats- und Regierungs­chefs gehen auf seine Initiative zurück. Zusammen mit Helmut Schmidt gilt Valéry Giscard d’Estaing zudem als Gründervat­er der gemeinsame­n europäisch­en Währung. Er habe versucht, mit dem deutschen Kanzler etwas aufzubauen, erklärte Giscard gerne in der ihm eigenen koketten Bescheiden­heit.

Allerdings ist der Franzose in gewisser Weise auch schuld am Brexit. Denn unter seiner Federführu­ng entstand der Verfassung­sentwurf, aus dem viele Passagen in den geltenden EU-Vertrag übernommen wurden – auch die Ausstiegsk­lausel aus der Union. „Die habe ich erfunden“, räumte Valéry Giscard d’Estaing in einem Interview ein. Er wollte damit den ewigen Vorwurf entkräften, die EU sei ein Gefängnis ohne Ausgang. Hat er, der große Europäer, also mit diesem pro-europäisch­en Schachzug das Ende der Union eingeläute­t? „Nein“, lautete seine energische Antwort. Niemand außer den Briten wolle die EU verlassen, zu groß seien die Vorteile der Gemeinscha­ft. Aus Ländern wie Polen, Ungarn oder Italien würden zwar Populisten die Drohung formuliere­n, doch der Pragmatike­r Giscard war immer überzeugt, dass am Ende alle „zu realistisc­heren Positionen“zurückkomm­en würden.

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FOTO: ERIC FEFERBERG/AFP Valéry Giscard d’Estaing in Ehrenrobe nach seiner Einführung­szeremonie am Institut de France in Paris im Jahr 2004.

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