Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Nichts gelernt

Vor zehn Jahren stürzte Samuel Koch in der TV-Show „Wetten, dass...?“und ist seither querschnit­tsgelähmt. Der Schock von damals blieb jedoch folgenlos. Das Privatfern­sehen setzt für die Quote weiter seine Kandidaten hohen Risiken aus.

- VON JÖRG ISRINGHAUS

DÜSSELDORF Vor zehn Jahren veränderte eine Wette das Leben eines Menschen und – zumindest zeitweise – die deutsche Fernsehunt­erhaltung. Millionen Menschen vor den Bildschirm­en und Tausende in der Düsseldorf­er ISS-Halle hielten den Atem an, als der 23-jährige Samuel Koch am 4. Dezember 2010 um 20.38 Uhr bei „Wetten, dass...?“ansetzte, mit Sprungstel­zen an den Beinen über einen auf ihn zufahrende­n Audi A8 zu springen. Ein Auto hatte er erfolgreic­h gemeistert, beim zweiten abgebroche­n. Beim dritten Wagen scheiterte er, schlug mit dem Kopf auf die Dachkante und dann auf den Boden. Alle im Saal verfolgten schockiert, wie sich Retter um den Schwerverl­etzten bemühten. Koch brach sich zwei Halswirbel, ist seither querschnit­tsgelähmt. Das Fernsehen trug zwar Blessuren davon, lief aber in punkto Unterhaltu­ng schnell wieder zu alter Form auf. Während der Unfall für Koch eine lebensverä­ndernde Zäsur bedeutete, ist er für das TV heute allenfalls eine längst verheilte Narbe.

Anfänglich aber löste die Schockwell­e nach dem Unfall beim ZDF wie in der gesamten Branche durchaus schwerere Verwerfung­en aus. Thomas Gottschalk erklärte seinen Rücktritt bei „Wetten, dass...?“, was letztlich nicht nur das Ende des Formats besiegelte, sondern auch das seiner Fernsehkar­riere. Es wurde diskutiert, inwieweit die Sender bereit sind, für die Einschaltq­uote die Gesundheit derjenigen zu riskieren, die sich vor der Kamera produziere­n. Ein Gutachten sprach das ZDF von jeder Schuld frei, der Unfall war demnach eine unglücklic­he Verkettung von Bewegungsf­ehlern. Auch Koch macht sich selbst verantwort­lich, wie er immer wieder erklärte, er habe sich monatelang akribisch vorbereite­t, der Stunt sei für ihn, den Leistungss­portler, so sicher gewesen wie Straßenbah­nfahren. Aber selbst dabei bleibt eben ein minimales Restrisiko.

Hat die Erschütter­ung nach dem Unfall noch dazu geführt, dass gerade bei den Öffentlich-Rechtliche­n vieles an Showgebare­n auf den Prüfstand kam und heute wohl so nicht mehr möglich ist, so überbieten sich die Privatsend­er längst wieder im Ausloten der Risikobere­itschaft ihrer Kandidaten. Als quotentaug­liche

Währung zählen Tränen, Angst und körperlich­e Grenzgänge. Es wird in großen Höhen herumgetur­nt, in gefluteten Verliesen getaucht, sich extremer Hitze oder Kälte ausgesetzt und generell „gespielt“bis zur totalen Erschöpfun­g – ein kleiner Kreislaufk­ollaps ist sozusagen immer eingepreis­t. Selbstvers­tändlich ist der Schrecken wohlkalkul­iert, und es soll niemand zu Schaden kommen, ganz auszuschli­eßen ist es aber nicht. So brach sich Michael Wendler 2015 beim Abseilen im Vorfeld des RTL-Dschungelc­amps die Hand – die Länge des Seils war wohl falsch berechnet gewesen.

Dass sich das Fernsehen auf der Suche nach spektakulä­ren Bildern immer wieder in gefährlich­e Untiefen

wagt, ist freilich nichts Neues. Seit jeher ging es auf der Jagd nach Zuschauern um die Balance, Grenzsitua­tionen zu zeigen, damit voyeuristi­sche Gelüste zu befriedige­n und dabei dennoch die Illusion aufrechtzu­erhalten, dass alles nur ein Spiel ist – was wegen des schon erwähnten Restrisiko­s nicht immer gelang. So wäre 1971 in der Sendung „Wünsch Dir was“beinahe eine Familie in einem Auto, das in ein Wasserbass­in versenkt wurde, trotz anwesender Taucher ertrunken. Auch damals entfesselt­e das eine breite Diskussion darüber, wie weit das Fernsehen gehen darf. Gebracht hat es wenig.

Verändert hat sich allerdings das Personal. Heute setzen sich kaum noch „normale“Kandidaten einer potenziell riskanten Herausford­erung aus, sondern fast ausschließ­lich Fernsehpro­fis, seien es Moderatore­n oder Realitysta­rs, deren Marktwert unmittelba­r an Einschaltq­uoten geknüpft ist. Das entschuldi­gt nichts, erhöht möglicherw­eise sogar die Bereitscha­ft der Sender, im Ringen um Zuschauerg­unst noch eine Schippe draufzuleg­en – doch geht es hier nicht mehr um ein paar Minuten Fernsehruh­m für jedermann, sondern um Menschen, zu deren Berufsbild es gehört, sich preiszugeb­en und auszuliefe­rn. Sie spielen das Spiel mit, weil sie es wollen; das Risiko wird toleriert. Und die Sender werden nicht müde, das Feuer zu schüren. Samuel Kochs Unfall ist für sie nur ein fernes Echo. Lerneffekt: gleich null.

Kochs Leben jedoch hat sich radikal verändert. Trotz seiner Lähmung hat er nie die Lebenslust verloren. Nach einem Jahr nahm er sein Schauspiel­studium in Hannover wieder auf, heute gehört er zum Ensemble des Nationalth­eaters Mannheim. Koch ist mittlerwei­le verheirate­t und hofft, sich eines Tages doch wieder aus dem Rollstuhl erheben zu können. Er setzt auf die neurologis­che Forschung, ist fest davon überzeugt, dass da noch viel Potenzial ist. Aber auch so scheint Koch sein Leben zu genießen. Auf seiner Instagram-Seite postete er kürzlich eine lange Liste von Menschen, Dingen und Gründen, für die er dankbar ist. Wie Vogelgezwi­tscher am Morgen zum Beispiel, der Duft von Kaffee, gute Musik, warme Socken und schöne Träume. Fernsehen gehört nicht dazu.

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FOTO: SEBASTIAN KAHNERT/DPA Samuel Koch (l.) sitzt zwei Jahre nach seinem Unfall bei „Wetten, dass..?“anlässlich der Präsentati­on seines Buches neben Moderator Thomas Gottschalk.
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FOTO: H.J. KNIPPERTZ/DPA Helfer kümmern sich bei „Wetten, dass...?“in Düsseldorf am 4. Dezember 2010 um den verletzt am Boden liegenden Samuel Koch.

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