Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Unterschätztes Risiko
England debattiert über die Demenz-Gefahr durch Kopfbälle und Kopfverletzungen. Der deutsche Fußball wartet ab.
DÜSSELDORF Fußballengland trauert, grübelt und diskutiert. Denn seine Weltmeister von 1966 vergessen gerade ihr Vermächtnis. Ende Oktober starb Nobby Stiles an den Folgen seiner Demenz, zwei Tage später verbreitete sich die Schreckensnachricht: Auch Grandseigneur Bobby Charlton sei demenziell erkrankt – schon der fünfte von elf WM-Helden.
Seitdem ist auf der Insel wieder eine Debatte über die gesundheitlichen Folgen des Fußballs entbrannt, darüber, wie gefährlich Kopfbälle und Kopfverletzungen sind. Die Spielergewerkschaft PFA kündigte eine Taskforce an, die künftig untersucht, wie Spieler besser zu schützen sind, und die Erkrankte unterstützt. Anwälte bereiten eine Klage von Ex-Spielern vor, ähnlich zu der, die 2013 früheren US-Football-Spielern 765 Millionen Dollar Schadensersatz einbrachte. Im Frühjahr hatte eine Studie aus Glasgow bei Fußballern ein dreieinhalbmal höheres Risiko für alle degenerativen Hirnkrankheiten und gar ein fünfmal höheres für Alzheimer festgestellt.
Und in Deutschland? Die Alzheimer-Erkrankung von Gerd Müller, dem Bomber der Nation, wird öffentlich nur selten mit seinem früheren Beruf in Verbindung gebracht. Noch immer werden Spieler, die nach Kollisionen oder Schlägen mit blutenden Kopfwunden aufs Spielfeld zurückkehren, von einigen Trainern, Fans und Medien reflexartig heroisiert. Erstmals kontrovers über Gehirnerschütterungen diskutiert wurde nach dem WM-Finale 2014. Als Christoph Kramer die Schulter seines Gegenspielers ins Gesicht bekam und benommen zu Boden ging, lief er wenige Minuten später reichlich irrlichtern wieder über den Platz. Ein zweiter Schlag hätte ihn das Leben kosten können.
Daniela Golz ist seit 20 Jahren als Neuropsychologin tätig. Der Fall Kramer war für sie und ihre Kollegen der Anstoß, die Gesellschaft für Sport-Neuropsychologie zu gründen, „um die Sensibilität für Gehirnerschütterungen zu erhöhen. Wir haben gesehen, dass die Gefahren stiefmütterlich behandelt werden.“
Bei Einschlägen auf den Kopf gerät das geleeartige Gehirn in Bewegung und prallt gegen die Schädelwand. „Die Nervenverbindungen werden gestaucht und gedehnt“, sagt Golz. Während sich nach Kopfbällen die kognitiven Fähigkeiten kurzfristig verschlechtern, haben Gehirnerschütterungen stärkere Mikroverletzungen und Symptome zur
Folge, die häufig erst nach Stunden eintreten: Gleichgewichts- und Koordinationsstörungen, Verwirrtheit oder Gedächtnisverlust. Vorgesehen sind sieben bis 14 Tage Pause. In der Praxis würden viele Spieler früher in den Wettkampf zurückkehren. Es bestehe dann das Risiko, ebenso wie bei zu vielen Kopfverletzungen, dass sich „bestimmte Symptome nicht mehr zurückbilden“, sagt Golz. Zudem gebe es „Hinweise darauf, dass demenzielle Prozesse angestoßen werden.“Im gleichen Verdacht
stehen auch Kopfbälle, die die Köpfe zwar leichter, beim Training aber im Sekundentakt erschüttern.
Entscheidend ist für Golz die Sensibilität bei Kopfballduellen und die unmittelbare Behandlung. An jedem zweiten Spieltag verletzen sich laut Deutschem Fußball-Bund (DFB) Spieler am Kopf. Den Teamärzten bleiben nur drei Minuten, um einige rudimentäre Tests durchzuführen. So lange muss der Schiedsrichter bei Zusammenstößen das Spiel unterbrechen. Für Golz ist es utopisch, in dieser Zeit eine fundierte Diagnose zu treffen. Die Neuropsychologin plädiert für eine längere Behandlungszeit, einen zusätzlichen Wechsel und einen neutralen Arzt. Denn der Teamarzt stehe häufig im Konflikt zwischen Gesundheit und Erfolgsdruck. Die englische Premier League setzt seit 2014 einen unabhängigen Tunnel-Doktor ein, der Zugriff auf Wiederholungen hat und bei kurzzeitigem Bewusstseinsverlust eingreift. Dann gilt zwingend: Auswechslung.
Die Deutsche Fußball-Liga (DFL) wollte sich nicht öffentlich zu einer Verschärfung der Regeln äußern. Dabei wäre sie durchaus in der Lage, diese eigenständig in ihre Spielordnung zu implementieren. In der Praxis folgt man aber meist dem DFB und seiner medizinischen Kommission. So auch im Sommer 2019, als die DFL für die Spieler aller 36 Profiklubs eine jährliche Untersuchung einführte, um bei Kopfverletzungen gesunde Vergleichswerte heranziehen zu können. Dieses Baseline-Screening gibt es in England seit 2014. Golz hätte sich eine „richtige neuropsychologische Untersuchung“gewünscht, um Gehirnerschütterungen ausschließen zu können. Das Screening erfasse nur bestimmte Eigenschaften wie Balance oder Merkfähigkeit.
International kommt Bewegung rein: Wie die Regelhüter des Ifabs erklärten, soll ein zusätzlicher Wechsel für Kopfverletzungen eingeführt werden, wie es ihn seit langem im Rugby oder Cricket gibt. Die Testphase beginnt im Januar im englischen FA Cup, in der Premier League spätestens ab der Saison 2021/22. Ob die Bundesliga nachzieht, ist unklar. Über einen „Concussion Substitute“wird seit Jahren diskutiert. „Worauf warten wir? Wir brauchen keine Tests, führt es jetzt ein!“, zürnte Englands Allzeit-Toptorjäger Alan Shearer am Sonntag bei der BBC. Zuvor war Wolverhamptons Raúl Jiménez
mit Schädelbruch vom Platz getragen worden, Arsenals David Luiz ließen die Teamärzte mit blutigem Turban 40 Minuten weiterspielen.
Als Reaktion auf die Demenz-Studie hatte der englische Verband FA das Kopfballtraining bis zum Alter von zwölf Jahren verboten. In den USA gibt es seit 2015 ein Verbot bis 13 Jahre. In Deutschland lediglich eine Empfehlung, bis 13 Jahre zu verzichten. Daran halten sich viele Vereine in der Praxis nicht. Der DFB verweist auf ein Interview auf der eigenen Webseite mit Tim Meyer. Dort warnt der Kommissionschef vor einer „Überinterpretation“der Studie aus Glasgow. Sie zeige nicht, ob „ein Zusammenhang zwischen Kopfbällen und dem erhöhten Demenzrisiko besteht“, oder andere Faktoren eine Rolle spielen. Golz dazu: „So wie ich das beobachte, will der deutsche Fußball erst wissenschaftliche Beweise haben, dass es zu langfristigen Schäden kommt, um angemessen zu reagieren, während die Engländer präventiv agieren.“DFB und DFL beteiligen sich dazu an der Nako-Gesundheitsstudie. Die Werte von 200.000 Bürgern sollen mit denen von 300 Ex-Fußballern verglichen werden. Erfasst wird auch die Zahl der Spiele und Kopfbälle, Position und Spielniveau.
Erkenntnisse sind nicht vor 2024 zu erwarten. Für Karlo Tenji, Jugendleiter der SpVgg Hamm, geht das nicht schnell genug. Er hat im Sommer bis zur U17 hinauf das Kopfballtraining abgeschafft. Wesentlich waren Studien aus anderen Sportarten und der Austausch mit dem englischen Partnerverein Bradford City. „Die Engländer sind schon viel weiter“, sagt Tenji. Die Gefahren seien offenkundig. „Wenn ein 340-Gramm-Ball auf den Kopf eines Zehnjährigen trifft, dann wackeln da doch alle Gehirnzellen“, sagt Tenji: „Ich habe eine Verantwortung gegenüber den Kindern.“
Erste Ergebnisse einer Studie aus München geben Tenji recht. Hirnforscherin Inga Koerte untersucht seit 2017 bei 120 Jugendfußballern zwischen 14 und 16 Jahre die Folgen von Kopfbällen. Sie sagte gegenüber dem WDR: „Wir sehen, dass es zu Veränderungen des Gehirns kommt: Der Struktur, des Stoffwechsels, und wie die Netzwerke im Gehirn arbeiten.“Koerte fragt sich, ob das englische Verbot weit genug geht: „Wenn man sagt, es ist bis zwölf Jahre verboten, suggeriert man, danach sei es ok. Wir wissen: das ist nicht der Fall.“
Worauf warten wir? Wir brauchen keine Tests, führt es jetzt ein! Alan Shearer Ehemaliger Nationalstürmer Englands