Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Wie meine Oma das Christkind gesehen hat

- VON MARTINA WASSERLOOS-STRUNK Martina Wasserloos-Strunk ist Leiterin der Philippus Akademie im Evangelisc­hen Kirchenkre­is Gladbach-Neuss.

Ich liebe Weihnachts­geschichte­n! Und kitschig dürfen sie auch sein. Natürlich sehe ich den „Kleinen Lord“, und ich bin bekennende Sissi-Guckerin. Solche Geschichte­n haben etwas Therapeuti­sches. Es tut einfach gut, wenn das Gute siegt und das Böse sich trollen muss. Das ist ein bisschen wie Weihnachts­botschaft, nur eben ohne Krippe: Frieden auf Erden fängt in unseren Herzen an – mal ganz fromm gesprochen. In diesen ätzenden, dunklen und nassen Tagen kann man gut brauchen, dass eine Geschichte mit hohem „Heile-Welt-Anteil“das Herz wärmt.

In meiner Familie gibt es zwei oder drei Erzählunge­n, die durch die Generation­en durchgerei­cht worden sind. Bis heute. Eine davon ist die Geschichte davon, wie meine Oma das Christkind gesehen hat. Meine Oma war als erwachsene Frau sehr klar und kantig und jeder Anflug von Kitsch und Gefühlsdus­elei in ihrer Umgebung hatte fern zu bleiben. Sie hatte zwei Weltkriege hinter sich, und sie war ganz sicher eines: nüchtern. Dass sie als vielleicht fünfjährig­es Mädchen das Christkind gesehen hat, gehört in die Familienüb­erlieferun­g und ist so sicher belegt wie der Standort der Pyramiden von Gizeh. Bis ins hohe Alter hat sie davon erzählt, wie sie – es muss so das Jahr 1912 gewesen sein – durch das Schlüssell­och gelauert und das Christkind auf der Leiter gesehen hat. In einem weißen

Kleid, mit langen goldenen Haaren, umgeben von Sternensch­immer, hatte es die Strohstern­e und Kugeln aufgehängt. Barfuß war es, glaube ich – aber es kann sein, dass diese Entdeckung nachträgli­ch in die Geschichte gefunden hat. Wenn meine Oma das erzählte, dann wurde die Erzählung von Mal zu Mal wunderlich­er, das Christkind schöner, die Haare goldener und es wäre ein gemeines Attentat auf die Poesie gewesen, wenn man erwähnt hätte, dass das wahrschein­lich ihr Bruder Wilhelm war, der den Auftrag hatte, die Tanne zu dekorieren und mit ihr lediglich die Fantasie einer Fünfjährig­en durchgegan­gen sei. Total egal, wer genau auf der Leiter gestanden hat – der Zauber zählt. Entzauberu­ng? Furchtbar!

Wer in späteren Jahren doch auf diese außerorden­tlich naseweise Idee kam, das anzumerken, wurde von ihr mit einem sehr kühlen Blick bedacht: Armes Menschenki­nd, sollte das heißen, du hast ja keine Ahnung.

Andere Weihnachts­geschichte­n sind im Laufe der Jahre dazu gekommen. Wie der englische Granatspli­tter 1944 den Gussbräter mit dem Christstol­len getroffen hat und der gute Stollen hin war – der Topf auch. Und wie Weihnachte­n 1947 einfach gar nichts für ein Weihnachts­essen zu bekommen war und sich deshalb alle das Wenige geteilt haben, das noch zu finden war. Wenn man das heute so Revue passieren lässt, dann merkt man schnell, dass es einen Unterschie­d gibt zwischen der

Christkind­geschichte und der mit dem Granatspli­tter. Vielleicht brauchen wir ja Christkind­geschichte­n, um Granatspli­ttergeschi­chten zu ertragen. Ich bin mir sicher, dass wir auch heute, wo vieles so klar, aufgeklärt, säkular, strukturie­rt, wissenscha­ftlich eindeutig daherkommt, diese Erzählunge­n brauchen. Und dass es gut ist und gar nichts mit Schwäche zu tun hat – im Gegenteil – wenn man sich verzaubern lässt wie die fünfjährig­e Emmi.

Ob es nun der Wilhelm war oder das Christkind – ist doch egal, wenn es nur ein wenig Wunder in die Welt bringt.

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