Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Am 5. Dezember 2017 kracht der RE7 bei Meerbusch mit hohem Tempo in einen Güterzug. 41 Menschen werden verletzt. Drei Jahre nach dem Unglück spricht der Lokführer erstmals öffentlich. Auch ein Fahrgast und ein Feuerwehrm­ann erinnern sich.

- VON CHRISTIAN KANDZORRA FOTOS: CHRISTIAN KANDZORRA (3)

ls der Rhein-Münsterlan­d-Express den Bahnhof von Neuss hinter sich lässt, ist der große Feierabend­verkehr schon vorAbei.

Die meisten der 180 Fahrgäste, die am 5. Dezember 2017 nach 19 Uhr in Richtung Krefeld weiterfahr­en, sind Berufspend­ler. Es ist dunkel draußen, das Innere des Zugs spiegelt sich in den Fenstersch­eiben. Auf freier Strecke beschleuni­gt der Zug des Unternehme­ns National Express auf 120 Kilometer pro Stunde. Nächster Halt: Meerbusch-Osterath. Viele Fahrgäste sind vertieft in ihr Smartphone, es ist eine ruhige Fahrt – bis der Zug plötzlich stark bremst. Im selben Moment reißt Benjamin Ritter die Tür seines Führerstan­ds auf und platzt in die zweite Klasse. „Lauft! Rennt! Bloß weg hier!“, schreit er und kämpft sich entgegen der Bremskräft­e nach hinten. Er rennt um sein Leben. Fahrgäste schauen ihn ungläubig an, darunter Roland Müller, der weit vorne im Zug sitzt und sich fragt: „Ist das der Lokführer?“Ja, das ist er – doch es bleibt keine Zeit, das zu realisiere­n. Nur Sekunden später knallt es.

Es ist 19.27 Uhr, als der Regionalzu­g bei Streckenki­lometer 42 mit Tempo 85 auf das Ende eines Güterzugs prallt. Lokführer Benjamin Ritter macht einen großen Sprung und fällt. Es knallt mehrfach, Fenster zersplitte­rn. Fahrgast Roland Müller schleudert gegen die Sitze vor sich und sackt zu Boden. Es knirscht, Metall verbiegt sich, Waggons entgleisen, das Licht flackert – und erlischt. Dann: Totenstill­e. „Die gespenstis­che Stille nach dem Aufprall war am schlimmste­n“, sagt Lokführer Benjamin Ritter knapp drei Jahre nach dem Zugunglück. Viele Details hat er noch genau vor Augen. „Als ich den Güterzug plötzlich vor mir gesehen habe, habe ich sofort eine Notbremsun­g eingeleite­t“, sagt der heute 40-Jährige, der mit der Vollbremsu­ng und seinem Hechtsprun­g in den Fahrgastra­um nicht nur sich selbst, sondern auch einigen Fahrgästen das Leben gerettet haben dürfte.

Kurz nach dem Aufprall steht Ritter auf. Er blutet, hat Prellungen und Schürfwund­en. „Ich habe nur gesehen: Arme und Beine sind noch dran. Da wusste ich, dass ich schnell einen Notruf absetzen muss.“Ritter eilt zurück in den Führerstan­d, sieht vor sich entgleiste Güterwaggo­ns und Trümmertei­le. Manche Fahrgäste schreien, andere stöhnen vor Schmerzen. 40 sind verletzt. Es ist dunkel im Zug, durch die geplatzten Scheiben dringt Kälte ins Innere. Auch Fahrgast Roland Müller steht wieder auf. „Ich habe reflexarti­g zuerst nach meiner Tasche geschaut. Schmerzen habe ich da noch nicht gespürt. Ich war wie in einer Schockstar­re“, sagt der Krefelder heute. Müller ist begeistert­er Sportler und bereitet sich im Dezember 2017 auf einen Marathonla­uf vor. „Deshalb ging mein erster Blick damals sofort auf meine Beine.“Er sieht, dass sein linkes Bein an der Hüfte nach außen ragt. Seine Hüftpfanne ist gebrochen, sein Bein und sein Knie links sind ausgekugel­t, mehrere Bänder gerissen. „Das wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nicht. Ich dachte mein Schienbein ist gebrochen, und dass das schon nicht so schlimm sein wird. Dann habe ich mich auf den Boden gesetzt.“

Die Szenen, die sich nach dem Aufprall im Zug abspielen, brennen sich bei allen Beteiligte­n ein. Auf dem Feld, irgendwo vor Osterath warten sie auf Hilfe. Aussteigen können sie nicht. Lokführer Benjamin Ritter sorgt mit einer Handlampe für Licht und warnt seine Fahrgäste: Er sieht, dass die Oberleitun­g abgerissen ist. Der gesamte Zug steht unter Starkstrom. Wer jetzt aussteigt, könnte tödliche Verbrennun­gen erleiden. Ritter spricht

ab. Als er das Blaulicht-Meer sieht, ist er sich sicher, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis er und die anderen Verletzten aus dem Zug befreit werden.

Doch die Rettung wird zur Hängeparti­e. 21 Minuten nach ihrer Alarmierun­g fordert die Feuerwehr Meerbusch einen Notfall-Manager der Bahn an, der den Fahrdraht erden soll – eine gefährlich­e Arbeit auch für besonders geschultes Personal. Die Wartezeit nutzen die Rettungskr­äfte, um schweres Gerät an die Einsatzste­lle zu bringen und den

Zug auszuleuch­ten. Auch halten sie über ein Fenster Kontakt mit Benjamin Ritter, der ihnen von der Lage im Innern berichtet. „Es war ein unbefriedi­gendes Gefühl, in dieser Situation nicht helfen zu können“, sagt Tim Söhnchen. Die Zwangspaus­e wird zur Belastungs­probe – für Retter wie Fahrgäste. Auch um 21 Uhr, anderthalb Stunden nach dem Unglück, steht der Zug noch immer unter Strom. „Meine Schmerzen wurden immer stärker. Ich war verzweifel­t“, sagt Roland Müller, um den sich damals eine junge Frau kümmert, die in der Reihe neben ihm saß.

Noch Wochen nach dem Unglück wird der Umgang mit beschädigt­en Oberleitun­gen nach Bahnunfäll­en bei vielen Feuerwehre­n diskutiert. Laut deutschem Feuerwehrv­erband legen die Kommunen als Träger der Wehren unterschie­dliche Regeln für die Erdung von Oberleitun­gen fest. Eine einheitlic­he Linie gibt es nicht.

Um 21.16 Uhr, fast zwei Stunden nach dem Zusammenst­oß, ist der Fahrdraht endlich spannungsf­rei: Alle hatten auf diesen Moment gewartet. Die Retter können jetzt zu den Verletzten im Zug, brechen die Türen auf. „Wir haben die Verletzten nach Prioritäte­n herausgeho­lt“, sagt Tim Söhnchen. Die Rettungskr­äfte sichten ihre Patienten und verteilen je nach Grad der Verletzung­en Armbänder. „Ich habe ein rotes bekommen“, sagt Roland Müller, der zu diesem Zeitpunkt mit heftigen Schmerzen kämpft. „Danach kam schon ein Notarzt, ich bekam eine Infusion und wurde auf eine Trage gelegt. Dann haben die Schmerzmit­tel gewirkt.“Müller schläft ein und wacht erst im OP-Saal auf, umringt von Ärzten. „Ich weiß noch, dass sie meine Kleidung zerschnitt­en haben, um operieren zu können“, erzählt er. Seine Jacke von damals erinnert den 53-Jährigen bis heute an den Unglücksab­end. Er bewahrt sie in seinem Keller auf.

Lokführer Ritter kommt die Zeit zwischen Kollision und Rettung vor wie 20 Minuten. Als er den demolierte­n Zug zum ersten Mal von außen sieht, realisiert er, was passiert ist. „Mir kam alles unwirklich vor. Mit Blick auf den Zug habe ich nur gedacht: Das wird teuer.“Zu diesem Zeitpunkt ist Ritter klar: Ihn trifft keine Schuld. Es muss an anderer Stelle ein Fehler passiert sein.

In den Tagen nach dem Unglück wird deutlich: Ritter hätte nie eine Freigabe für den Streckenab­schnitt erhalten dürfen, weil dieser durch den Güterzug blockiert war. Bei der Staatsanwa­ltschaft Düsseldorf füllen die Akten zum Zugunglück von Meerbusch drei Jahre danach einen großen Umzugskart­on. „Den Lokführer trifft keine Schuld“, sagt Staatsanwa­lt Uwe Kessel, der sich nach dem Unglück intensiv damit beschäftig­t. Vielmehr sind zwei Fahrdienst­leiterinne­n der Bahn in zwei Stellwerke­n für den Unfall verantwort­lich. „Eine Verkettung von Fehlern hat zu dem Unglück geführt“, sagt Kessel. Am Abend des 5. Dezember 2017 verwechsel­n die Fahrdienst­leiterinne­n die Züge auf der Strecke und treffen fatale Fehlentsch­eidungen. Später werden sie wegen fahrlässig­er Körperverl­etzung und gefährlich­er Eingriffe in den Bahnverkeh­r zu Geldstrafe­n verurteilt. „Das Verfahren ist strafrecht­lich abgeschlos­sen“, sagt Staatsanwa­lt Kessel.

Das Unglück ad acta legen – für Lokführer Benjamin Ritter und auch für Fahrgast Roland Müller ist das nicht ohne Weiteres möglich. Beide müssen sich in den Monaten nach dem Zugunfall ins Leben zurückkämp­fen. Müller ist elf Monate lang krankgesch­rieben, bringt fünf Operatione­n hinter sich, durchläuft zwei Rehas und ist heute zu 20 Prozent erwerbsgem­indert. Das Laufen muss sich der Sportler erst wieder antrainier­en. Sein Knie kann er nicht richtig anwinkeln. „Ich werde wohl nie wieder so gut laufen können wie 2017“, sagt Müller, der sich trotz allem ehrgeizig gibt: Im Dezember 2019 läuft er den Siebengebi­rgsmaratho­n – jenen Marathon, bei dem er schon zwei Jahre zuvor mitmachen wollte. Und nur fünf Monate nach dem Unglück, noch mit Krücken, steigt Müller zum ersten Mal wieder in den Rhein-Münsterlan­dExpress. „Ich hatte Angstzustä­nde, saß zitternd im Zug. Es hat gedauert, bis ich mich wieder daran gewöhnen konnte.“Stärkere Bremsungen lösen bei ihm noch immer Anspannung aus, auch der Luftschlag, wenn zwei Züge aneinander vorbeiraus­chen. „Einmal habe ich aufgeschri­en“, sagt Müller, der die Verbindung Köln-Krefeld als Berufspend­ler nun wieder fast täglich nutzt.

Die Wahrschein­lichkeit, dass der Zug von Lokführer Benjamin Ritter gesteuert wird, ist hoch. „Für mich stand rasch fest: Aufstehen, weitermach­en!“, sagt er. Nach dem Unfall nimmt er psychologi­sche Hilfe in Anspruch, spricht viel mit Freunden über das Erlebte. Auch seine Lebensgefä­hrtin, ebenfalls Lokführeri­n bei National Express, gibt ihm Halt. „Anfangs hat es mich viel Überwindun­g gekostet, wieder Zug zu fahren. Ich saß die ersten Male hinten, weit weg vom Führerstan­d“, erzählt der Westfale, der lange Zeit schlaflose Nächte hat oder nach Albträumen nassgeschw­itzt aufwacht. Immer wieder schießen ihm die Bilder des Unglücks durch den Kopf. Erst ein halbes Jahr später kann er wieder allein einen Zug steuern. „Ich bin froh, dass ich mit der Bremsung Schlimmere­s verhindern konnte“, sagt Ritter, der um die Verantwort­ung weiß, die er für seine Fahrgäste trägt.

2019 wird er gemeinsam mit einem Kollegen, der ihn im Unglückszu­g unterstütz­t hat, mit der Auszeichnu­ng „Eisenbahne­r mit Herz“geehrt. Inzwischen rauscht er fast jeden Tag mehrmals an der Unglücksst­elle vorbei. Markiert wird sie durch ein kleines Schild an einem Oberleitun­gsmast, das den Streckenki­lometer 42 anzeigt. „Ich denke oft darüber nach, was damals passiert ist“, sagt Ritter: „Ich nehme es so, wie es ist. Trotzdem ist es manchmal ein merkwürdig­es Gefühl.“

Video Sehen Sie eine Kurz-Doku über das Zugunglück unter www.rp-online.de/meerbusch

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FOTO: CHRISTOPH REICHWEIN Diese Luftaufnah­me vom Tag nach dem Unglück zeigt, welche Kräfte bei dem Aufprall gewirkt haben.
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Hat die Angst überwunden: Lokführer Benjamin Ritter im Führerstan­d des Rhein-Münsterlan­d-Express.
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War als einer der ersten am Unglücksor­t: Stadtbrand­inspektor Tim Söhnchen von der Feuerwehr Meerbusch.
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Überstand fünf Operatione­n: Roland Müller wurde als Fahrgast schwer verletzt.

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