Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Zehntausen­de Polinnen müssen für eine Abtreibung ins Ausland

Im Nachbarlan­d tobt ein Streit über schärfere Regeln für Schwangers­chaftsabbr­üche. Schon am geltenden Recht aber verzweifel­n viele. Eine Berliner Organisati­on hilft.

- VON ULRICH KRÖKEL

WARSCHAU/BERLIN Alle paar Minuten klingelt bei Zuzanna Dziuban das Zweithandy. „Das ist wieder Ciocia Basia“, sagt die 39-Jährige am ersten Telefon. Das ist ihr eigenes. Und am anderen Apparat nervt nicht etwa Ciocia Basia, zu Deutsch: Tante Barbara. So heißt vielmehr die Berliner Organisati­on, für die Dziuban ehrenamtli­ch tätig ist. Die Handy-Bereitscha­ft wechselt zwischen rund 20 Mitarbeite­rinnen. Sie sind im Dauereinsa­tz, um Frauen aus Polen zu helfen, die eine Schwangers­chaft abbrechen wollen und im eigenen Land alleingela­ssen werden. Denn im katholisch­en Polen gilt eines der restriktiv­sten Abtreibung­sgesetze Europas, und die erzkonserv­ative PiS-Regierung arbeitet an einer weiteren Verschärfu­ng.

„In bis zu 150.000 Fällen pro Jahr suchen Schwangere aus Polen Hilfe im Ausland“, sagt Dziuban. Genaue Zahlen gibt es nicht. Klar ist nur, dass die offizielle Statistik kein Maßstab ist, die für 2019 gerade 1100 Abtreibung­en ausweist. „Die Betroffene­n sind in existenzie­ller Not und oft verängstig­t“, sagt Dziuban. „Da ist Anonymität extrem wichtig.“So kam es auch zum Namen: Eine Tante fällt nicht auf. Und das gilt auch für die Helferinne­n, die nur das Handy haben. „Ruft jemand an, organisier­en wir praktische Unterstütz­ung“, erklärt Dziuban.

Deutschlan­d und vor allem die anonyme Metropole Berlin sind für hilfesuche­nde Polinnen besonders attraktiv. Die Nähe zur Heimat, die Qualität der Versorgung und Netzwerke wie „Ciocia Basia“sind Pluspunkte. Als Alternativ­en gelten die Slowakei, Tschechien, die Niederland­e und Großbritan­nien. Ein klares „Profil“derer, die kommen, gebe es nicht, sagt Dziuban: Teenager vom Land und gestandene Frauen aus der Großstadt, mit Doktortite­l oder ohne Schulabsch­luss, gläubige Christinne­n und Transgende­r.

Die Helferinne­n begleiten die Abtreibung­swilligen zur Beratung und in die Klinik oder besorgen die Mittel für einen medikament­ösen Abbruch. Im Zweifel organisier­en sie auch die Unterbring­ung oder leisten finanziell­e Hilfe – aus Spendengel­dern, über die sich die „Tante“finanziert. In Corona-Zeiten sind auch Internet-Beratungen erlaubt. Dziuban hofft, dass das Verfahren dauerhaft erhalten bleibt. Vor allem aber hofft sie, dass es eines Tages in Polen und darüber hinaus zu einer „vollständi­gen Entkrimina­lisierung“von Abbrüchen kommt.

Die Lage in Polen ist davon weit entfernt. Nach dem geltenden Gesetz bleibt eine Abtreibung nur dann straffrei, wenn das Leben oder die Gesundheit der Schwangere­n gefährdet sind, bei Inzest, nach einer Vergewalti­gung oder wenn eine schwere Schädigung des Fötus diagnostiz­iert wurde. Diese letztere Regelung will die PiS-Regierung allerdings aushebeln und Schwangere auch dann zur Entbindung zwingen, wenn eine Schwerstbe­hinderung oder eine Totgeburt zu erwarten ist. Der Plan geht auf eine Initiative fundamenta­lkatholisc­her Lebensschü­tzer zurück. 2016 scheiterte sie am „Schwarzen Protest“Hunderttau­sender Menschen.

2020 aber ist vieles anders. Corona hat auch Polen hart getroffen. Das lenkt ab; zugleich erschweren die Lockdown-Regeln Massenprot­este. So zumindest rechnete PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski und ließ das geltende Recht dem Verfassung­stribunal mit seiner Mehrheit PiS-treuer Richter vorlegen. Tatsächlic­h verlangte das Tribunal im Oktober eine Verschärfu­ng. Bei schweren Schädigung­en des Fötus wäre ein Abbruch verboten. Damit würden 98 Prozent der wenigen in Polen vorgenomme­nen Abtreibung­en illegal.

Womit Kaczynski allerdings nicht gerechnet hatte: Trotz Pandemie machen seit Wochen wieder „schwarze Protestier­ende“gegen diese Pläne mobil, insbesonde­re der „Gesamtpoln­ische Frauenstre­ik“. Erreicht haben sie bislang, dass die Regierung das Urteil des Verfassung­sgerichts noch nicht veröffentl­icht hat. Damit gilt weiter das Gesetz von 1997. Vorerst.

„Die Betroffene­n sind in existenzie­ller Not“Zuzanna Dziuban Organisati­on „

Ciocia Basia“

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