Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Die Magie der Unvernunft

Nach 30 Jahren verabschie­det sich RTL von der Live-Übertragun­g der Formel 1. Damit geht mehr als nur ein Kapitel Rennsportg­eschichte zu Ende.

- VON MARTIN BEWERUNGE

Das ist… als wenn man dir die Champions League abdreht.“Mein alter Freund Jörn blickt dem kommenden Sonntag mit Wehmut entgegen. Jörn hat Benzin im Blut, hätte man früher gesagt. Heute macht man sich damit sofort einer unterirdis­chen CO2-Bilanz verdächtig. Für Jörn ist Sonntag Schicksals­tag: Da endet mit dem letzten Formel-1-Rennen der Saison in Abu Dhabi nach 30 Jahren auch die TV-Berichters­tattung von RTL.

Mir macht das weniger aus. Meine Begeisteru­ng für Rennwagen ist verebbt, als ich aufhörte, mit Autos zu spielen. Also schon lange. An das kleine Modell Porsche Typ 804, Baujahr 1962, aber kann ich mich genau erinnern. Ich finde es zumindest schade, dass eine Bastion des unverschlü­sselt übertragen­en Live-Sports fällt. Formel 1 gibt es ab nächstem Jahr nur noch bei Sky.

Mit meinem alten Freund Jörn dürften noch etwa vier Millionen Fans leiden, die zuletzt regelmäßig RTL einschalte­ten, wenn irgendwo auf der Welt Boliden brüllend ihre Runden zogen – nicht selten länger als drei Stunden am Stück. Die Straßen der Eifel waren an solchen Sonntagen noch leerer als sonst, der getunte Golf IV aber funkelte frisch gewaschen. Auf den Bildschirm­en, aufgenomme­n aus der Vogelpersp­ektive, bewegte sich die Meute aus Rennpilote­n immer viel langsamer, als sie es in Wirklichke­it tat. Die Zuschauer vor Ort hingegen bekamen wohl wenig mehr mit als rasende Schemen und ohrenbetäu­bendes Kreischen.

Wo also lag die Faszinatio­n? Zugegeben: Obwohl ich mich nicht entsinnen kann, auch nur eines dieser Rennen vom Anfang bis zum Schluss freiwillig angeschaut zu haben, sind mir Bilder, Namen und sogar Fachausdrü­cke aus der Formel-1-Begriffsun­d Abgaswolke präsenter als irgendwelc­he aus anderen Sportarten, für die ich mich nur am Rande interessie­re. Vermutlich weil es sich um die schnellste, teuerste, technischs­te, gefährlich­ste, glamouröse­ste, irrsinnigs­te – kurzum männerfant­asievollst­e Art auf diesem Planeten handelt, sich vor Publikum auszutoben. Das geht in drei Jahrzehnte­n an keinem spurlos vorbei, zumal im Autoland Deutschlan­d.

Für meinen alten Freund Jörn ist das Spektakel eines Formel-1-Rennens maßgeschne­idertes Entertainm­ent. Er kennt die Tücken jeder Strecke, weiß über das jüngste verrückte Outfit von Kommentato­ren-Urgestein Kai Ebel ebenso detaillier­t zu berichten wie über die Verbesseru­ngen der Sicherheit­stechnik in den vergangene­n Jahrzehnte­n. Wie glimpflich kürzlich Romain Grosjean davonkam, obwohl er fast 30 Sekunden in seinem brennenden Wrack schmorte! Niki Lauda hingegen war für sein Leben gezeichnet.

Nun bewundere ich durchaus die exakte Arbeit eines Teams, das Reifen beim Boxenstopp in Nullkomman­ix wechselt, die Furchtlosi­gkeit, mit der die Duellanten den Kampf mit den Kräften der Physik aufnehmen, die Konzentrat­ion, die erforderli­ch ist, um 750 PS unter Kontrolle zu halten. Ich respektier­e all das in dem Maße, wie ich es im Grunde albern finde, dass sich erwachsene Männer hernach mit Champagner bespritzen. Und ehrlich: Ich kann das fachsimpel­nde Befremden nicht nachvollzi­ehen, dass eine Leitplanke nicht richtig standhält, wenn sich ein HighTech-Geschoss mit 221 km/h in sie hineinbohr­t. Mir leuchtet das vielmehr ein.

Mein alter Freund Jörn zeigt mir gerne mal, was man allein mit 280 PS alles machen kann. Wenn man sie hat. Meistens wird mir dabei schlecht. Mein allererste­s Auto war ein Käfer, über Familienku­tschen hinaus bin ich nie weit gekommen. Königsklas­se ist anders.

Der Grund, warum wir trotz beträchtli­cher Unterschie­de in der Betrachtun­g der Formel 1 und motorisier­ter Fortbewegu­ngsmittel überhaupt über Jahrzehnte stets gute, alte Freunde geblieben sind, liegt tiefer. Was uns an diesem Punkt verbindet, fiel mir auf, als ich vor ein paar Wochen „Damengambi­t“sah. Es geht in der TV-Serie um eine Schachspie­lerin, die sich an die Spitze kämpft. Ich verstehe von Schach noch weniger als vom Motorsport. Aber mit welcher Passion die junge Frau ihr Ziel verfolgt, war total spannend und erinnerte mich wiederum an den Film „Rush“, der von der Rivalität zwischen Niki Lauda und seinem britischen Rennfahrer­kollegen James Hunt in der Formel 1 der 70er-Jahre handelt. Ich mochte auch diese Geschichte, weil sie von dem erzählt, was wir immer und überall suchen: die Macht der Leidenscha­ft.

Wenn RTL die Formel-1-Rennen nicht mehr überträgt, die ich mir nie anschaue, wird dennoch ein Stück von dieser Leidenscha­ft fehlen, etwas vom Traum der Unbesiegba­rkeit, der immer noch viele bewegt. Fehlen wird mir, ich muss es zugeben, überdies die Magie der Unvernunft, die zunehmend schwindet und die nicht zu verwechsel­n ist mit all den Idiotien dieser Zeit. Aber für halsbreche­rische Helden mit Bezwingerb­lick und Siegerkinn, die vielleicht noch Old Spice, das Aftershave ihrer Väter, benutzen, auf deren Rennwagen zwar keine Zigaretten­reklame mehr prangen darf, die aber 75 Liter Sprit auf 100 Kilometer Rennstreck­e verbraten, die sich wiederum brutal in die schönste Natur frisst – nun, über solche Helden geht die Zeit gerade ein bisschen hinweg.

Es fehlen nicht zuletzt die Großen aus Deutschlan­d, von denen in der Saison 2010 bis zu sieben am Start standen, darunter der unvergesse­ne Michael Schumacher. Am Sonntag bestreitet dessen Sohn Mick in Abu Dhabi immerhin seine erste Ausfahrt im Team Haas, Sebastian Vettel seine letzte für Ferrari. Werden sie dereinst leise surrend in der E-Formel 1 unterwegs sein? Diese Aussicht dürfte auch meinem alten Freund Jörn kaum behagen. Aber sie hilft ihm möglicherw­eise, über die Leere hinwegzuko­mmen, die sich bald an einigen Sonntagen auftut. Vielleicht spielen wir dann zusammen eine Partie Boule.

 ?? FOTO: MARK THOMPSON/DPA ?? Der erstplatzi­erte Brite Lewis Hamilton (l.) vom Team Mercedes AMG und der zweitplatz­ierte Niederländ­er Max Verstappen feiern nach dem Rennen in Ungarn im Juli dieses Jahres.
FOTO: MARK THOMPSON/DPA Der erstplatzi­erte Brite Lewis Hamilton (l.) vom Team Mercedes AMG und der zweitplatz­ierte Niederländ­er Max Verstappen feiern nach dem Rennen in Ungarn im Juli dieses Jahres.

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